24. Dezember 2014 2 Likes

Zeiterfahrung

Samuel R. Delanys „Die Bewegung von Licht in Wasser“

Lesezeit: 5 min.

Samuel R. Delany … Aus meinem Bücherregal blicken mich das Eschersche Erzähllabyrinth namens »Dhalgren«, die interplanetarische Pittoreske namens »Triton«, das mythenverdauende Welttheater namens »Einstein, Orpheus und andere«, blickt mich ein wichtiger, wenn nicht konstituierender Teil der Science-Fiction-Postmoderne an. All das Bücher aus den 1960er Jahren aufwärts, Bücher aus der Zeit vor Star Wars, aber ich habe sie altersbedingt erst einige Jahre nach Star Wars gelesen, was ein großes Glück war, denn gemeinsam mit J. G. Ballard, Joanna Russ, Harlan Ellison und den anderen New-Wave-Helden hat mir Delany damals eine wichtige Lektion erteilt: Selbst wenn nur ganz wenige Menschen etwas kennen oder zur Kenntnis nehmen, selbst wenn sich etwas auf dem weitestentfernten kulturellen Außenposten abspielt, den man sich nur denken kann, so kann es doch etwas unschätzbar Wertvolles sein: ein Text, der uns nicht nur in die Zukunft führt, sondern auch in die Gegenwart – dorthin, wo wir zu Hause sind. Das lernte ich Mitte der 1980er. Danach habe ich Samuel R. Delany, dessen Produktivität und Kreativität bis heute nie wirklich nachgelassen haben, leider etwas aus den Augen verloren. Vielleicht hat er aber auch mich, seinen Leser, etwas aus den Augen verloren: Von seinem zuletzt erschienenen Roman »Through the Valley of the Nest of Spiders« etwa heißt es, man müsse sich durch etliche hundert Seiten hochexzentrischer Pornografie kämpfen, um schließlich zu einem genialen, erkenntnismehrenden Lesemoment zu gelangen – also ganz bestimmt ein Meisterwerk, aber ich fürchte, das ist mir zuviel der Mühe.

Wie auch immer, Samuel R. Delany, Jahrgang 1942: »Ein schwarzer Mann … Ein schwuler Mann … Ein Science-Fiction-Schriftsteller …« Wie ein bluesiger Basslauf legen diese drei Persönlichkeitsmerkmale das Fundament für Delanys autobiografische Erinnerungen an die Zeit im New York der späten 1950er und frühen 1960er Jahre, jene Zeit, in der er das wurde, was er war: schwarz, schwul und Science-Fiction-Schriftsteller. »Die Bewegung von Licht in Wasser«, Ende der 1980er erstveröffentlicht und danach mehrmals überarbeitet und ergänzt, folgt allerdings weniger einem chronologischen, sondern eher einem iterativen Muster: Geschichten, Anekdoten, Assoziationen reichen sich die Hände, konkurrieren miteinander und bedingen sich doch auf ganz und gar einleuchtende Weise. Darüber hinaus erweckt das Buch noch nicht einmal den Anschein, als würde hier ein Schriftsteller in seinen späten Jahren auf der berühmten Suche nach der verlorenen Zeit sein Gedächtnis durchpflügen und auswringen – Delanys Jugenderinnerungen sind selbst ein Objekt der Erinnerung und damit der Literatur, wie es an einer Stelle heißt: »Aber ist die Erinnerung etwas anderes als ein Überschuss an Bedeutung, der aus dem Leben einen Text macht, in dem Zeit (in beide Richtungen), Temperament (Sinn, Struktur, Stimme) oder auch nur sprachliche Kontiguität ebenso eine Rolle spielen wie die zufälligen Regeln des Erzählens? Und sorgt nicht dieser Überschuss zwangsläufig dafür, dass jedes Erinnerungsbild, dem wir einen klaren Sinn beilegen wollen, mehrdeutig bleibt?«

Diese allgemeine wie spezielle Mehrdeutigkeit ist das erzählerische Prinzip von »Die Bewegung von Licht in Wasser« und erklärt den Titel: das Licht, das sich schimmernd und flüchtig und wunderschön im Wasser spiegelt, das Licht, das vergangene Wirklichkeit und gegenwärtige Interpretation und vergangene Interpretation und gegenwärtige Wirklichkeit zugleich ist. Und diese Mehrdeutigkeit führt auch zur eigentlichen Erkenntnis: Denn während wir dem jungen Delany von 1957 bis 1965 durch New York folgen (inklusive einem längeren Ausflug an den Golf von Mexiko gegen Ende des Textes) und dabei feststellen, dass diese Zeit ganz anders war, als wir sie aus dem Fernsehen kennen, sehen wir gleichzeitig einem Intellekt zu, wie er die Welt, die Kultur, die Gesellschaft und sich selbst in alldem zu fassen versucht, wie er auf den Kern des Verstehens abzielt, den die Flüchtigkeit, das Schimmern im Wasser nicht verbirgt, sondern gerade erst hervorbringt.

Schwarz, schwul, Science-Fiction-Schriftsteller … Wer meint, dass es eine exotischere, kompliziertere Mischung für diese Jahre – der Rock ’n’ Roll, die Hippies, die »Gegenkultur« waren noch Lichtjahre entfernt – eigentlich nicht geben kann, der kann sich hier eines besseren belehren lassen. Denn »schwarz« war nicht gleich schwarz (Delanys Familie repräsentierte die schwarze Mittelschicht der 1950er mit ihren ganz eigenen gesellschaftlichen Codes und Verrenkungen), »schwul« war nicht gleich schwul (die Jahre, von denen Delany berichtet, waren auch die seiner Ehe mit der Lyrikerin Marilyn Hacker, und er erzählt darüber hinaus in extenso von erotischen Arrangements und Begegnungen, von denen die Mad Men allenfalls mit hochroten Ohren träumten), und »Science-Fiction-Schriftsteller« war nicht gleich Science-Fiction-Schriftsteller: Delanys SF-Biographie verläuft völlig anders als das typische Modell jener Jahre (das Modell Asimov-Heinlein-Clarke), er will nicht in den Weltraum fliegen, um uns die Zukunft zu erklären, er will – ganz der ehrgeizige Hochbegabte, der Bester, Finlay und Sturgeon ebenso durchdrungen hat wie Balzac, Auden und Melville – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die Wirklichkeit insgesamt in Kunst verwandeln, und wenn er dafür in den Weltraum fliegen muss, dann ist das eben so. »Während das erste Violett des Spätnachmittags ins Wolkenrund über den Geräuschen jenseits der Kreuzungen von schrägen und vertikalen Trägertauen sickerte, machten wir uns auf den Weg über die Brücke und unterhielten uns dabei über die Schwierigkeiten, die entstanden, wenn man den Roman als ›Chronik des Sozialen‹ genauso fesselnd gestalten wollte wie den ›Abenteuerroman‹, und wir fragten uns, ob das in der Science Fiction möglich sei …« Über etliche Seiten zieht sich dieser Spaziergang mit Marilyn, auf dem Delany die Grundlagen einer Science Fiction erdenkt, die Jahre später »Babel-17«, »Dhalgren« und »Triton« hervorbringen sollte. Eine Schlüsselstelle. Das meiste davon womöglich (Delany weist immer wieder auf diese Möglichkeit hin) nachträglich zurechtfantasiert, aber nicht das Wesentliche, nicht das, worauf es wirklich ankommt: all die Romane, Erzählungen und Essays, die er nach diesem Spaziergang geschrieben hat und jetzt in meinem Bücherregal stehen und große Kunstwerke sind.

»Die Bewegung von Licht in Wasser« ist weniger Zeitgeschichte (ein so zentrales politisches Ereignis wie etwa die Ermordung Kennedys wird allenfalls am Rande erwähnt) als Zeiterfahrung: Delanys luzide Prosa, die jeden Rhythmus, jede Geschwindigkeit spielerisch beherrscht, sein sanftes Herantasten an das, was wir Erinnerung nennen, sein tief berührendes Verständnis dessen, was Menschsein bedeutet und bedeuten könnte, erschaffen einen Ort und eine Zeit, erschaffen ein Damals, das sich wie ein Heute und ein Morgen anfühlt. Samuel R. Delany war in diesem Damals – in diesem Heute, in diesem Morgen – und er hat uns etwas Wunderbares mitgebracht: dieses Buch, dessen Worte schimmern wie Licht im Wasser.

Samuel R. Delany: Die Bewegung von Licht in Wasser • Golkonda Verlag, Berlin 2014 · 635 Seiten · € 29,90

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