29. August 2016 1 Likes

Verververschachtelt

Es gibt Bücher, in denen man sich im wahrsten Sinne des Wortes verlieren kann

Lesezeit: 13 min.

Bis vor kurzem war mir der Name C.P.F. Chantraine unbekannt, und von seinem einzigen veröffentlichten Roman „Verververschachtelt“ (London: George Pal and Drome, 1935) hatte ich erst recht nichts gehört. Eine Google-Recherche ergab, dass Chantraine in den Zwanziger- und Dreißigerjahren Professor für Neutestamentarisches Griechisch an der Universität Oxford gewesen war, außerdem der Verfasser von „Histoire du Parfait Grec“ (Paris 1927) und der Moffatt-Kommentare zu den Johannesbriefen (1931). Dem wenigen zufolge, was ich über ihn in Erfahrung bringen konnte, schien er ein anständiger Bürger gewesen zu sein: Junggeselle, Gelehrter und Kirchgänger. In den offiziellen Dokumenten wird nie etwas so Flatterhaftes erwähnt wie ein Roman aus seiner Feder, und in seiner Bibliographie ist lediglich ein Artikel für die Cambridge Review von 1934 über „Rahmenhandlungen in französischer und deutscher Literatur“ zu finden. Als sein Todesjahr wird 1935 angegeben, obwohl einige Websites die These aufstellen, dass Chantraine nicht wirklich starb, sondern „verschwand“.

Zu dem Buch selbst kam ich durch einen seltsamen Zufall. Leider fehlt mir hier die Zeit, diese Geschichte zu erzählen, obschon sie voller unerwarteter Wendungen und Pointen ist. Es sei nur gesagt, dass ich eines schönen Frühlingstages eine Ausgabe in Händen hielt. Der verblichene Buchdeckel war mit grünen Schimmelflecken übersät (der Schutzumschlag zweifellos lange verschollen), die Seiten jedoch makellos. Ich setzte mich auf mein Lieblingssofa im Arbeitszimmer. Die Sonne schien durch das Fenster, ich hatte eine Tasse Tee griffbereit. Ich öffnete das Buch und fing an zu lesen.

Auf der Titelseite befand sich ein handgeschriebener Kommentar: „Der renommierte Bibelgelehrte Professor Chantraine verfasste nur einen einzigen Roman. Diesen. Mehr scholastische Übung denn packende Erzählung, wurde er mit dem Ziel geschrieben, die Grenzen der ‚Rahmenhandlungen‘ zu erforschen – also jener Geschichten, in denen ein Erzähler eine zweite Geschichte in die eigentliche Geschichte einfügt, die eine Zeit lang fortschreitet, um schließlich einer dritten Geschichte Platz zu machen. Und so weiter, vergleichbar den russischen Matrjoschka-Puppen.“ Ich konnte keinen Hinweis auf den Verfasser des Kommentars finden.

Der Text selbst war auf sehr dünnem Papier gedruckt, das äußerst sorgfältig gebundene Buch lag angenehm in der Hand und war trotz des oben erwähnten angestoßenen Äußeren eine haptische Freude. Seltsam nur, dass die Seiten nicht nummeriert waren.

Ich fing also an zu lesen. In der ersten Rahmenhandlung ging es um einen Professor an der Universität Cambridge, der einen Studenten bestrafen musste, weil dieser nicht zu den Vorlesungen erschienen war. Er zitierte den Burschen zu einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Tag in sein Büro. Zum verabredeten Termin klopfte es an der Tür, doch anstelle des jungen Studenten stand eine kleine alte Frau davor. Auf ihrer Stirn prangte eine hellrote Warze, einer Chilischote nicht unähnlich. Sie erklärte, dass man ihr aufgetragen hätte, dem Professor ein Paket zuzustellen, und überreichte ihm einen dicken, verschnürten Papierpacken. Sobald der Professor ihn entgegennahm, forderte sie ihren Lohn ein: ein Sixpencestück. Nun hatte der Professor gerade kein solches bei sich, dafür aber einen Schilling. Doch obwohl diese Münze bekanntermaßen zweimal so viel wert ist wie die andere, wurde die Frau sehr wütend, weil man ihr Nickel statt Silber anbot, und stürmte, unappetitliche Verwünschungen ausstoßend, davon.

Der Professor entschnürte das Packet: Es enthielt ein getipptes Manuskript, verfasst von ebenjenem Studenten. Eine Einleitung oder eine Entschuldigung fehlten; stattdessen warf der Text den Leser mitten in einen Bericht über diverse Geschehnisse des vorangegangenen Sommers. Der Professor las aufmerksam, erwartete er doch in der Erzählung selbst eine Rechtfertigung des Studenten. Doch wenn eine solche überhaupt vorhanden war, so war sie ausnehmend weitschweifig angelegt. Zunächst stellte der junge Mann dar, wie er in jenem Sommer mit mehreren Kommilitonen zu einer Kletterpartie in die bayerischen Alpen aufgebrochen war. Aufgewachsen in Wiltshire, zur Schule gegangen in Repton und jetzt Student in Cambridge, hatte er sein ganzes Leben in der flachen Landschaft Südenglands verbracht; nun hallte der Ruf der Berge in seiner Seele wider, und die Aussicht auf Abenteuer ließ sein Herz höher schlagen. Die vierköpfige Gruppe plante, in Begleitung eines lokalen Bergführers und eines weiteren, sechsten Reisenden, die berühmte Zugspitze zu erklimmen. Am ersten Tag kamen sie gut voran und schlugen ihr Nachtlager an einem verschneiten Überhang auf. Am zweiten Tag zog es zu. Schließlich machte ein Schneesturm das Bergsteigen unmöglich, und so wartete die Gruppe in zwei Zelten ab, bis sich die Unbilden des Wetters legten. Um sich die Zeit zu vertreiben, erzählte ihnen der Bergführer seine Lebensgeschichte. Er war ein munterer, kahlköpfiger Mann in den Vierzigern und ein erfahrener Alpinist, allerdings litt er unter einer merkwürdigen körperlichen Anomalie: Mitten auf seiner Stirn befand sich eine große Beule oder ein Geschwulst unter der Haut. Dies, so erklärte er den vor Kälte zitternden jungen Bergsteigern, rührte daher, dass etwas unter dem Fleisch im Schädelknochen steckte. Ein hartes, kugelförmiges Objekt, das kein chirurgischer Eingriff zu entfernen vermochte. „Dieses Objekt in meinem Kopf trage ich nicht von Geburt an“, sagte er. „Im Gegenteil. Ich wurde in eine reiche russische Aristokratenfamilie geboren, wuchs vor der Revolution in St. Petersburg auf, verbrachte meine Jugendjahre in Bonn und Paris. Ich liebte die Poesie, rauschende Feste und junge Frauen. Ich spielte Tennis und ja, ich betrieb auch die Bergsteigerei. Aber mein größtes Vergnügen war es, mit unserer Familienjacht über das Mittelmeer zu segeln. Das Wasser war so blau, dass es fast purpurn unter der weißen, warmen, alles überstrahlenden Sonne schimmerte. Diese unbekümmerten Tage waren die glücklichsten meines langen Lebens. Nun, der Wendepunkt kam im Jahre 1913, als ich und meine Gefährtin vor den ionischen Inseln kreuzten. Nach einer wunderbaren Woche brach die Katastrophe über uns herein. Ein Sturm kam scheinbar aus dem Nichts auf und überrumpelte mich (Grünschnabel, der ich im Segeln war!), sodass unser Boot an der felsigen Küste einer kleinen Insel auf Grund lief. Nach meiner Schätzung befanden wir uns ungefähr fünfzig Seemeilen südwestlich von Kreta. Wir konnten von Glück reden, den Schiffbruch unversehrt überstanden zu haben. Ich war gerade dabei, Verpflegung und alles Notwendige aus dem Boot zu holen, als der Sturm seine Kraft verdoppelte, das Schifflein vom Felsen riss und es in tausend Stücke zerschlug – der tosende Wind hob es einfach in die Luft und schmetterte es gegen den Fels.

Wir fanden Unterschlupf und warteten, bis der Sturm vorüberzog, gerade so, wie wir das in diesem Augenblick hier im Gebirge tun. Am nächsten Tag erforschten ich und meine Gefährtin durchnässt und erschöpft die Insel. Das Wetter hatte mit der für das Mittelmeer typischen Launenhaftigkeit gewechselt: Nun war der Himmel strahlend blau, die warme Luft trug das Rauschen der Wellen und das Summen der sich im Flug befindlichen Insekten mit sich. Ich weigerte mich, die Hoffnung aufzugeben: Schließlich waren wir nicht mitten im Pazifik gestrandet! Früher oder später musste ein Schiff vorbeikommen und auf uns aufmerksam werden.

Weder Mensch noch Tier schienen die Insel zu bewohnen. Sie war so klein, dass wir sie in ein paar Stunden umrundet hatten. Ihre gesamte Küste bestand aus Felsbrocken, sodass sie von weißer Gischt umsäumt war, die feinster Spitze ähnelte. In der Mitte des Eilands ragte ein mehrere hundert Meter hoher, baumbewachsener Gipfel auf. Diesen zu erklimmen, bedurfte bergsteigerischer Fähigkeiten, die jene meiner Gefährtin überstiegen. Ich ließ sie am Ufer zurück, machte mich allein an den Aufstieg und entdeckte in der Nähe des Gipfels, zwischen den Bäumen verborgen, eine steinerne Aussichtskuppel mit einer Tür an der Seite. Sobald ich die Kuppel betrat, tanzten Sterne vor meinen Augen und ein grässlicher Kopfschmerz durchfuhr mich. Ich verlor das Bewusstsein, und als ich wieder zu mir kam, fand ich mich in einem weitaus größeren Raum wieder, als es die Fassade des Bauwerks hatte vermuten lassen. Die weißen Wände wurden von einer am höchsten Punkt der Decke hängenden Gaslampe beleuchtet. Genau in der Mitte des Raumes saß eine alte Frau, hager, faltig und mit einer hellroten Warze auf der Stirn, die an eine Chilischote erinnerte. Sie redete mich auf Französisch an, und ich antwortete in derselben Sprache. Ob ich eine Silbermünze bei mir hätte? Wie es der Zufall wollte, trug ich ein silbernes Zwei-Franc-Stück in der Hosentasche. Als ich es ihr reichte, grinste und lachte sie. Dann setzte ich mich im Schneidersitz auf den Boden, schilderte ihr meine missliche Lage und ließ mich von ihr trösten.

„Nun will ich Euch meine Geschichte erzählen“, verkündete sie mit schwacher Stimme. „Obwohl sie Euch unglaublich erscheinen wird. Beispielsweise bin ich viel älter, als ihr euch vorstellen könnt. Im Jahr meiner Geburt wurde Frankreich noch von einem König regiert …“

Hier legte ich „Verververschachtelt“ zur Seite. Ich hatte sechzig oder siebzig Seiten gelesen (genauer vermag ich es nicht zu sagen, da die Seiten wie erwähnt nicht paginiert waren). Trotzdem hatte ich das Gefühl, keinen Fortschritt gemacht zu haben, so viele Seiten lagen noch vor mir. Erneut bewunderte ich das feine, an Zwiebelhaut erinnernde Papier. Mir schwante, dass es sich bei diesem Roman nur um eine Übung in endloser Verzögerung handelte. Würde es auf ewig so weitergehen, würde man dem Leser niemals die Befriedigung sich zusammenfügender Erzählfäden gönnen? Wie ärgerlich, so viel Zeit und Energie für eine solche Geschichte aufzuwenden und letztendlich nur zum Narren gehalten zu werden.

Ich schlug das Ende des Buches auf. Auf den letzten Seiten entdeckte ich zu meiner Überraschung tatsächlich die Auflösung der ersten Rahmenhandlung: der Geschichte von dem Professor und seinem ungehorsamen Studenten. Ich blätterte ein paar Seiten vor und sah, dass auch die zweite Geschichte zu einem Ende geführt wurde. Sobald dies absehbar war, klappte ich das Buch schnell zu, da ich geradezu panische Angst davor habe, das Ende einer Geschichte zu erfahren, bevor ich die Lektüre beendet habe. Ich sagte mir: Nun habe ich die Geschichte angefangen, jetzt muss ich sie auch zu Ende lesen. Ich muss einfach herausfinden, auf welche Weise sich diese Handlungsstränge bis zum Schluss des Buches hin entwirren. Ohne zu schummeln.

Ich öffnete das Buch ungefähr dort, wo ich die Lektüre unterbrochen hatte, doch anstatt in der merkwürdigen Geschichte des jungen schiffbrüchigen Russen auf der Mittelmeerinsel fand ich mich inmitten einer ebenso merkwürdigen Geschichte von einem königlichen Marineoffizier zur Zeit George des Dritten wieder. Besagter Offizier begibt sich mithilfe einer außerirdischen Apparatur (so vermutete ich jedenfalls) auf den Mond, wo ihm jedoch nur die Technologie des achtzehnten Jahrhunderts zur Verfügung steht. Ich blätterte zurück und suchte in den erstaunlich dünnen Seiten die Stelle, an der ich abgebrochen hatte. Dabei überflog ich eine ganze Reihe aufeinanderfolgender Rahmenhandlungen. Etwa die einer jungen Frau, bei der jedes einzelne Haar eine eigene, wurmartige Existenz führte. Oder die eines alten Mannes, dem es gelungen war, seine Seele von seinem Körper zu trennen und in einem Bernstein einzuschließen. Doch die ursprüngliche Stelle fand ich nicht wieder.

Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend schlug ich das Buch ganz vorne auf und blätterte die Seiten mit den mir bereits vertrauten Geschichten eine nach der anderen um, bis ich die Stelle fand, an der ich aufgehört hatte. Die Sonne ging bereits unter, und das polierte Mahagoni der Bücherregale schimmerte im whiskyfarbenen Licht. Staubkörner tanzten wie Mücken durch mein Arbeitszimmer. Aus weiter Entfernung ertönte die Kirchenglocke, wie ein melodiöser Hammer, der einen langen Silbernagel schmiedet.

Natürlich war mir die Kurzgeschichte „Das Sandbuch“ von Borges aus dem Jahre 1975 bekannt: „El libro de arena“, wie der Titel im spanischen Original lautet. In dieser kurzen Fabel imaginierte der argentinische Meister ein Buch mit einer unendlichen Zahl von Seiten und spekulierte über dessen Eigenschaften. Mir kam langsam der Verdacht (und mein Herz verkrampfte sich dabei schmerzhaft vor Angst), dass ich ein Exemplar eben jenes Buches in Händen hielt. In Borges‘ Geschichte beunruhigt die bloße Existenz des Buches den Protagonisten so sehr, dass er es in einem Regal einer riesigen Bücherei versteckt, unauffindbar wie ein Laubblatt im Wald. Bei Borges ist das Buch in unverständlicher Sprache in einer unbekannten Schrift geschrieben, und obwohl es mit vielen Illustrationen gespickt ist, kann der Besitzer nicht viel mehr tun, als es durchzublättern - wissend, dass er niemals dieselbe Seite zweimal aufschlagen wird. Bei meinem Exemplar verhielt es sich jedoch anders: Es war in lesbarer Prosa geschrieben und enthielt eine Reihe packender Geschichten.

Plötzlich kam mir der Gedanke, dass das Buch verflucht sein könnte. Bei seinen Bibelstudien war Professor Chantraine irgendwie auf schwarze Magie gestoßen und hatte die frevelhafte Macht erlangt, ein solches Werk zu erschaffen und dabei die Naturgesetze außer Kraft zu setzen. Ich konnte das Buch eine Ewigkeit lang lesen, ohne nennenswerte Fortschritte zu machen.

Ich legte es auf den Tisch, stand vom Sofa auf und ging im Zimmer auf und ab. Mittlerweile war es dunkel geworden, so dass ich das Licht anschalten musste. Hatte ich noch alle Tassen im Schrank? Magie? Schwarze Kunst? Pff! Zugegeben, das Buch war umfangreich, umfangreicher, als es die Dicke des Buchrückens nahelegte. Aber das lag an dem hauchdünnen Papier. Die Seiten besaßen, wenn ich sie zwischen die Finger nahm, Gewicht. Sie nahmen Raum ein. Es war also nicht möglich, eine unendliche Zahl von ihnen zwischen zwei Buchrücken zu quetschen. Wie töricht! Das Buch war lang, doch gewiss nicht endlos. Diesen Beweis würde ich antreten, indem ich es durchlas.

Ich machte es mir wieder auf dem Sofa bequem und las. Die erste, zweite, dritte und vierte Geschichte, jeweils in eine andere eingefügt, kannte ich bereits. Die fünfte war etwas fantastischer: Sie handelte von einer Vogelart, die im Boden haust und in den Wurzeln der Bäume ihre Nester baut, so wie gewöhnliche Vögel es auf Ästen tun. Die sechste Geschichte war noch bizarrer, und während ich diese las, bekam ich allmählich den Eindruck, dass nicht allein in meinem Arbeitszimmer war. Wohl gab es keinen Luftzug, nichts störte mich, allein die Glühbirne hinter dem smaragdgrünen Lampenschirm schien leicht hin und her zu pendeln. Die alte Frau mit der roten Warze auf der Stirn trat in der elften Geschichte wieder auf und mich überkam das (irrationale und idiotische) Gefühl, dass sie sich im selben Raum wie ich aufhielt und mich beim Lesen beobachtete. Das war natürlich unmöglich. Immer, wenn ich aufblickte, weil ich glaubte, im Augenwinkel eine Bewegung oder ein grinsendes Gesicht in den Schatten in der Ecke wahrgenommen zu haben, war nichts zu sehen. Eine schwere Last drückte auf meine Brust – das Gefühl, über eine Schwelle zu treten, hinter der es kein Zurück mehr gab.

Die zwölfte eingeschobene Geschichte wurde von der dreizehnten unterbrochen. Ich las weiter. Das Fenster vor meinem Arbeitszimmer färbte sich purpurrot und dann schwarz; dann setzte die Morgendämmerung ein und tauchte die Bücherregale gegenüber in ihren rosigen Schein; die Sonne warf ein schräges Lichtparallelogramm an die Wand. Dann ging sie wieder unter, und abermals wurde es Nacht. Ich las weiter.

Die Geschichten wurden zunehmend grotesker und fantastischer. Jede wurde auf halber Strecke von einer neuen Geschichte unterbrochen. Ich las wie im Fieberwahn, konnte nicht aufhören, meine Augen über die Wörter zu jagen. Mit jeder neuen Rahmenhandlung schwang sich meine Fantasie zu ungeahnten Höhen auf. Ich war nur noch das Auge, das über die Zeilen streicht, die Hand, die die Seiten umblättert, und gelegentlich die Lippe oder Zunge, die die Fingerspitze befeuchtet und so das Umblättern erleichtert.

Nacht und Tag verschmolzen. Die Glühbirne brannte durch, doch die Seiten selbst leuchteten – wie ich nun bemerkte – in einem hellen, unheimlichen Licht, das (und dieser Vergleich mag seltsam erscheinen) dem Bildschirm eines iPads ähnelte, nur wärmer und organischer. So gestaltete sich das Lesen in völliger Dunkelheit einfach, ja sogar angenehm. Ich las. Die Gegenwart der unheimlichen Alten war nicht mehr so deutlich zu spüren. Die Luft kühlte ab. Das Haus um mich herum stürzte in sich zusammen; Zikkurats und Weltraumlifte tauchten auf und verschwanden wieder, die Sterne schwankten und fielen alle gleichzeitig zu Boden wie ein Mann, der das Bewusstsein verliert. Das smaragdgrüne Meer schlug über mir zusammen und floss wieder ab. Darunter tat sich eine unendlich weite rote Ebene auf. Der Lehmboden war von den sechseckigen Rissen tödlicher Dürre gezeichnet. Die Sonne färbte sich blutrot und wuchs, bis sie den halben Himmel bedeckte, dann wurde sie noch größer, so dass sie schließlich den ganzen Himmel ausfüllte, während der tiefschwarze Fleck in ihrem Inneren immer kleiner wurde. Dann schrumpfte der Sonnenballon in einem Lidschlag zusammen und verschwand, und eine Million Sterne in unbekannten Konstellationen funkelten in der absoluten Kälte auf mich herab. Einer nach dem anderen verlosch, wie es mit meiner Glühbirne geschehen war, und eine Epoche ruhiger, tiefer Dunkelheit hob an. Ich las weiter. Das Universum atmete aus, soweit es ihm sein Atem erlaubte, und zog sich dann über unzählige Äonen wieder zusammen. Ich befeuchtete Finger und Daumen und blätterte um.

Das Wesen aller Dinge schien verknotet – erst bei genauerem Hinsehen wurde offensichtlich, dass es sich um einen Trick handelte. Wenn man fest an der Schnur zog, löste sich der Knoten und die Schnur war wieder ganz gerade.

Die zentrale Erzählung lag hinter mir; nun beendete ich mit jeder Geschichte eine der unzähligen, die ich zuvor begonnen hatte. Die Lektüre wurde leichter und flüssiger, ich musste weder die Augen bewegen noch umblättern. Um mich herum entstand neues Licht, der zurückgekehrte Gravitationsdruck presste Trillionen von Atomen zum glänzenden Gold jungfräulicher Sterne. Ich glitt förmlich durch die zweite Hälfte des Buches.

Und dabei erfasste mich tiefe Ehrfurcht vor dieser komplizierten, brillanten Struktur. Chantraine war ein Genie, größer als Shakespeare, Goethe und Proust zusammen. Mit jeder Geschichte, die sich „schloss“, wuchs mein Verständnis der Gesamtkomposition. Die fragile Konstruktion, die befriedigende Narration bildeten ein Meisterwerk, das jede lineare Erzählung haushoch überragte.

Irgendwann erfuhr ich den Ausgang der Geschichte von dem jungen Russen, der mit seiner Gefährtin im Mittelmeer Schiffbruch erlitten hatte.

Dann erklärte sich das seltsame Objekt auf der Stirn des Bergführers, und damit hatte auch die Geschichte von der Expedition des Studenten in die bayerischen Alpen ihr Ende gefunden.

Und schließlich schloss sich die letzte Klammer. Mit welcher Pracht, welch wundersamer Schönheit auch das finale Element an seinen Platz rückte!

Ich klappte das Buch zu und wollte es in meinen Schoß fallen lassen, hätte ich denn noch einen gehabt. Ich wandte den Kopf und betrachtete mit neuen Augen den Kosmos, dessen Teil ich war.

Ich hatte das Buch fertiggelesen.

 

Adam Roberts ist eine der talentiertesten Stimmen in der neueren britischen Science-Fiction. Geboren 1965, studierte er Englische Literatur in Aberdeen und Cambridge und arbeitet derzeit als Dozent an der University of London. Alle Kolumnen von Adam Roberts finden Sie hier.

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