In der Zukunftsblase
Donald Trumps Wahlsieg ist ein großes Problem – das Problem dahinter ist aber noch viel größer
Es war notwendig, sich an etwas festzuhalten, und so griff ich in jener hysterischen Nacht, als Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt wurde, zu John Bergers meditativem Aufsatz „Eine Fuhre Scheiße“. Nicht nur wegen des wunderbaren Titels, sondern vor allem weil der Text um einen zeitlosen Satz kreist, der nun wie kaum ein anderer in die Zeit passt: „Das Böse beginnt nicht mit verwesender Materie, sondern mit der menschlichen Fähigkeit, sich mit Worten in etwas hineinzusteigern.“
Aber gut. Die Schlacht ist geschlagen, der Pulverdampf verzieht sich, und es hat wenig Sinn, noch einmal über all die Lügen, Beleidigungen und Provokationen zu räsonieren, mit denen Trump den Wahlkampf dorthin gezogen hat, wo er ihn haben wollte: ganz unten. Ebenso wenig Sinn hat es, darauf hinzuweisen, dass Trump die Wahl nicht gewonnen hätte, würden die USA ihren Präsidenten im Zeitalter globaler Hyperkommunikation nicht mittels eines Wahlmänner-Systems aus dem 18. Jahrhundert wählen. Oder darauf, dass er die Wahl nicht deshalb gewonnen hat, weil alle seine Wähler von den Beleidigungen und Provokationen begeistert waren (einige waren es natürlich) oder den Lügen geglaubt haben (einige haben es natürlich), sondern weil die Mehrzahl derjenigen, die diesmal den Ausschlag gaben – die weiße Mittelschicht in den deindustrialisierten nordöstlichen Bundesstaaten –, die eine große Lüge, nämlich dass für sie auf wundersame Weise „alles besser wird“, glauben wollten.
Andererseits, und das mag überraschen, bin ich aber auch nicht der Meinung, dass die kommende Trump-Administration zwingend reaktionär-apokalyptische Verwerfungen zeitigen wird. Natürlich ist es von großer Bedeutung, wer im Weißen Haus sitzt – in meinem Bekanntenkreis wird derzeit immer wieder darauf verwiesen, dass wir ja auch Ronald Reagan und George W. Bush „überstanden“ hätten, aber hätte es ohne Reagan eine Deregulierung dieses Ausmaßes gegeben? Und ohne Bush den desaströsen zweiten Irak-Krieg? Bei Trump allerdings, der in seinem Leben mehrmals die politischen Seiten gewechselt hat, dessen Unterstützer zu weiten Teilen keine traditionellen Republikaner sind und der mit maßlosen bis völlig absurden Versprechungen um sich geworfen hat, rechne ich eher mit einer erratisch-aktionistischen und weitgehend mit sich selbst beschäftigten Präsidentschaft, die ihren eigenen Heilsbotschaften hinterher stolpert. (Und man sollte auch nicht vergessen, dass Trump reichlich Berlusconi-artiges Gepäck mit ins Weiße Haus schleppt. Ganz überraschend wäre es jedenfalls nicht, wenn da irgendetwas schlummert, was zu einem Impeachment Anlass geben könnte.) Wie auch immer: Die nächsten vier Jahre könnten ziemlich merkwürdig werden. Spannend werden sie auf jeden Fall.
Aber unabhängig vom politischen Fallout hat die Wahl Trumps noch einen anderen und, wie ich meine, weitaus bedenklicheren Aspekt. Sie ist Ausdruck einer Mentalitätsverschiebung in den demokratischen Gesellschaften des Westens, die seit geraumer Zeit im Gange ist und nach dem Brexit-Votum nun zum zweiten Mal einen bedeutenden Wahlausgang beeinflusst hat: Mehr und mehr verlieren wir unsere Zukunft. Das heißt nicht, dass wir die Zukunft verlieren; irgendeine Zukunft wird es ja geben, und gerade sieht sie generell nicht besonders rosig aus. Nein, mehr und mehr verlieren wir eine gemeinsame Vorstellung von der Zukunft – die Zukünfte der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen laufen immer weiter auseinander, und es gibt immer weniger „Dolmetscher“, seien es Organisationen oder Personen, die diese Unterschiedlichkeiten erklären und zusammenführen können. Anders gesagt: Die verschiedenen soziokulturellen Milieus entwickeln sich mehr und mehr zu Mikro-Gesellschaften, in denen die jeweilige Zukunftsvorstellung das Maß aller Dinge ist.
Wie sonst ist die große Überraschung, ja Fassungslosigkeit zu erklären, mit der die sich als im weitesten Sinne liberal definierende Öffentlichkeit auf den Wahlausgang reagiert hat? „Das Unmögliche ist geschehen“, war der Tenor. Und tatsächlich: Man konnte es sich nicht vorstellen, dass überhaupt irgendjemand diese „Witzfigur“ wählen würde. Aber während wir – und ich rede jetzt von dem Milieu, in dem auch ich mich bewege – dachten, Trumps Wahlkampf würde den allergrößten Teil der Wählerschaft abschrecken, mobilisierte Trump genau die Wähler, die er zum Sieg benötigte und von denen wir, schlaue demografische Analysen vor Augen, annahmen, sie könnten gar keine Wahlen mehr entscheiden. Jene Wähler, die Hillary Clinton einmal als „deplorable“ bezeichnete. Jene Wähler, die Bruce Springsteen regelmäßig wehmütig besingt – zuletzt auf einer Wahlkampfveranstaltung für Hillary Clinton.
Und diese Wähler sehen in der Zukunft offenbar nicht das überstaatliche, multikulturelle, urbanisierte und digitalisierte Dienstleistungsidyll, das wir uns womöglich vorstellen oder wünschen; ganz im Gegenteil: Sie haben große Ängste vor einer solchen Zukunft. Ängste davor, dass eine solche Zukunft nichts mehr mit ihnen zu tun haben könnte. Und diese Ängste hat sich Trump in demagogischer Manier zunutze gemacht – indem er eine Zukunft vorgaukelte, die nicht aus Zukunft gebaut war, sondern aus Vergangenheit.
Neu ist ein solches Vorgehen nicht. Und ich meine auch nicht, dass wir uns in einer neuen „postfaktischen“ Phase oder gar Ära der Demokratie befinden. Seit wann geht es in der Politik nur um Fakten? Seit wann geht es darum, die Wahrheit zu sagen? (Über „Wahrheit und Lüge“ im Politischen schrieb Hannah Arendt schon vor fünfzig Jahren, und zu welchen Realitätsverzerrungen präsidentielle Lügen führen können, hat zuletzt George W. Bush auf beängstigende Weise demonstriert.) Ebenso wenig glaube ich, dass die Welt in der „digitalen Demokratie“ in irgendeiner Weise komplexer geworden ist; die Komplexität der Welt liegt jetzt eben nur offen zutage. Tatsächlich ist es in Zeiten von Facebook und Twitter genauso schwer oder leicht, sich ein Urteil zu bilden, wie zu jenen Zeiten, in denen der Meinungskampf auf der Straße ausgetragen wurde – aber genau das ist der springende Punkt: Wir müssen uns ein Urteil bilden. Wir müssen urteilsfähig sein. Wenn wir uns lediglich in sich selbst bestätigenden Zukunftsblasen aufhalten, wenn wir nur das an gesellschaftlicher Realität wahrnehmen, was unserer Vorstellung von der Zukunft entspricht, dann verlieren wir mehr und mehr die Fähigkeit, uns auf die Perspektiven, die Interpretationen, die Ängste eines anderen einzulassen. Dann verlieren wie die Fähigkeit, uns in andere Wirklichkeiten – in andere Zukünfte – hineinzudenken.
Das heißt selbstverständlich nicht, dass wir uns auf eine ressentimentgetriebene, sexistische oder rassistische Perspektive einlassen sollten; hier gilt, was in einer Demokratie immer gelten muss: Auch der Mehrheit sind Grenzen gesetzt. Aber es heißt – das klingt selbstverständlich, ist es aber nicht mehr –, dass wir uns die Fähigkeit bewahren müssen, miteinander zu sprechen. Wenn man nämlich nur mit sich selbst spricht, dann werden die Worte, die man sagt, irgendwann zur einzigen Realität. Genau das hat Donald Trump in den letzten Monaten auf perfide Weise vorexerziert: Er hat es geschafft, Millionen von Menschen in seine narzisstische Zukunftsblase zu integrieren; er hat sich so lange an seinen eigenen Worten berauscht, bis sie plötzlich Wirklichkeit waren. Und auch wenn er als Präsident mit dieser Strategie an einer anderen, konkreteren Wirklichkeit scheitert (was ich hoffe): Es ist unsere Aufgabe, zu verhindern, dass sich diese Strategie wie ein Flächenbrand ausbreitet. Denn irgendwann gibt es gar keine gemeinsamen Worte mehr; irgendwann fühlt sich die eine Zukunft der anderen in jeder Hinsicht überlegen.
Und dann beginnt das Böse.
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