9. November 2022 1 Likes

„Atlas der vergessenen Orte“ – Die Faszination des Verfalls

Travis Elborough gewinnt einem bekannten Thema spannende Facetten ab

Lesezeit: 3 min.

Die meisten Menschen zieht es im Urlaub an Orte, an denen sie sich erholen können, am Strand liegen, vielleicht noch eine touristisch gut erschlossene antike Stätte besuchen können. Dann gibt es die Abenteurer, die das Risiko lieben, meist aber auch Orte besuchen, die nicht unbekannt sind. Und dann gibt es Menschen wie Travis Elborough, die es zu wirklich unbekannten, seltsamen, obskuren, eben vergessenen Orten zieht.

Zugegebenermaßen ist diese Art der Entdeckung nicht mehr ganz ungewöhnlich, unzählige Blogs und Bücher beschäftigen sich mit sogenannten Lost Places, Ruinen, die zu besuchen ein gewisses Maß an Risiko birgt und wenn auch oft nur ein eingebildetes. Um Berlin herum sind etwa die Beelitzer Heilstätten ein fast schon offiziell inoffizielles Ziel, diverse verlassene Militärstützpunkte verfallen in Brandenburg munter vor sich hin, auf der Insel Hashima, vor der japanischen Küste, wurde sogar der James Bond-Film „Spectre“ gedreht.

Warum also noch ein Buch über verlassene, vergessene Orte? Weil Travis Elborough in Atlas der vergessenen Orte“ (im Shop) wirklich Orte zusammengestellt hat, die kaum bekannt – und meist auch kaum zu besuchen sind. Ob er sie selbst tatsächlich alle selbst gesehen hat, darf man getrost bezweifeln, aber wie er die Orte beschreibt, ihre Geschichte erzählt, oft vom eigentlich Ort abkommt und spannende Haken schlägt, macht dieses Buch auch für Kenner der Thematik lesenswert.

In fünf Kategorien hat er die Orte geordnet, von „Leer stehende Bauwerke“ und „Verfallene Reiseziele“ über „Unklare Situationen“ bis „Endstationen“ und„Ausgediente Einrichtungen“, eine nicht wirklich zwingende Ordnung, denn ein leerstehendes Hotel in Japan könnte in fast jeder Kategorie Platz finden.

Eine Qualität von Elboroughs Zusammenstellung fällt jedoch schnell auf: Nicht nur verlassene Orte aus Westeuropa oder den USA finden Eingang, sondern auch Orte aus Afrika, Südamerika oder der Karibik. Verführerisch wirkt etwa das ehemalige Staatshotel Ducor Palace, das im westafrikanischen Liberia vor sich hinrottet. Wie Elborough zu erzählen weiß, gaben sich einst Herrscher aus aller Welt die Klinke in die Hand, angeblich verweigerte Idi Amin, der berüchtigte Diktator aus Uganda sogar, seine Pistole abzugeben – und nahm sie sogar zum Schwimmen mit in den Pool.

Auch Sans Souci kommt vor, allerdings nicht das Märchenschloss vor den Toren Berlins, sondern ein nach dem preußischen Vorbild benannter, verfallener Palast im Norden von Haiti. Das ausgerechnet auf der Insel, die sich dank des schwarzen Revolutionsführers Toussaint Louverture als erstes Land Lateinamerikas von den Fesseln des Kolonialismus befreite, so ein monströser Palast entstand, ist eine Absurdität der Geschichte. Nur wenige Jahre nach der Unabhängigkeit herrschten auf Haiti wieder Diktatoren, die sich an ihrer Macht berauschten und sich mitten im Dschungel ein Denkmal setzen wollten.

Und so geht es weiter, ein, zweimal um die Welt, von einer verlassenen U-Bahnstation in New York, über die Ortschaft Pyramiden auf Spitzbergen, wo zwecks Kohleabbau eine eigene, typisch russische Stadt entstand, inklusive Lenin-Monument, bis zur gigantischen, von Ratten bewohnten New World Mall in Bangkok.Von einer psychiatrischen Klinik im italienischen Volterra, über das Hellinikon-Gelände der Olympischen Spiele 2004 bei Athen, bis zum U-Boot Stützpunkt Balaklawa auf der Krim.

Manche der geschilderten Orte sind nicht mehr besuchbar, sie sind inzwischen abgerissen, andere sind Sperrgebiet, wieder andere harren darauf, dass sich ein Mäzen findet und Geld in die Sanierung steckt. Gemein sind all den vergessenen Orten, die Travis Elborough zusammengetragen hat, dass sie von menschlicher Hubris erzählen, von Visionen, die zum Scheitern verurteilt waren – und die langsam von der Natur zurückerobert werden und in einigen Jahrzehnten ganz verschwunden sein werden.

Travis Elborough: Atlas der vergessenen Orte • Sachbuch • Aus dem Englischen von Werner Kügler • Prestel, München 2022 • 208 Seiten • Hardcover • € 30,00 • im Shop

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