13. August 2022

„Cinderella ist tot“

Ferienlektüre: Kalynn Bayrons dystopisches Märchendebüt

Lesezeit: 4 min.

Sommer, Sonne, Strand: Der Urlaub kann so schön sein. Wenn die Fahrt in die Ferien mal wieder länger dauert oder es doch regnet, lohnt sich immer etwas Lesestoff dabei zu haben. In der heutigen Folge geht es um eine 16-Jährige, die ein Königreich zu Fall bringt.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Doch was passiert eigentlich nach dem Happy End? 200 Jahre nachdem Cinderella ihren Prinzen gefunden und geheiratet hat, ist ihr Königreich zu einem Albtraum für Mädchen und Frauen geworden. Ab dem 16. Lebensjahr sind sie dazu verpflichtet, am jährlichen Ball des Königs teilzunehmen. Finden sie nach dem dritten Fest keinen Ehemann, gelten die Teilnehmerinnen als vogelfrei.

Es sind Geschichten, die jede:r kennt, die uns unsere Kindheit lang begleiten und auch im Erwachsenenalter nicht loslassen. Vermutlich ist das einer der vielen Gründe, warum Märchen und ihre Nacherzählungen bis heute so beliebt sind. Zu den bekanntesten Figuren zählt zweifelsohne das Aschenputtel. Wer von uns fühlt nicht mit dem ungeliebten Mädchen mit, das unter der bösen Stiefmutter und den ebenso bösen Stiefschwestern leidet? Wer gönnt ihr nicht, ihr Glück zu finden? Glück ist jedoch relativ. In ihrem Debüt Cinderella ist tot“ (im Shop) zeichnet Kalynn Bayron ein düsteres Bild von dem, was nach dem Happy End passiert. Sie nimmt Aschenputtels Märchen auseinander – und erzählt eine Geschichte über Fake News, Ideologie, Rebellion und Emanzipation.

Ich-Erzählerin Sophia steht kurz vor ihrem ersten Ball. Und sie hat so gar keine Lust darauf. Weder schert sie sich um das Ereignis, noch um die damit verbundene Etikette. Natürlich kennt auch sie Cinderellas Geschichte in- und auswendig, muss doch jeder Haushalt im Königreich eine vom Palast autorisierte Ausgabe daheim haben und verinnerlichen. Doch Sophia hat schnell gemerkt, dass sie niemals einen Prinzen, sondern lieber eine Prinzessin heiraten möchte.

Für die Liebe zweier Mädchen ist im Königtum kein Platz. Sophia möchte für die Gefühle zu ihrer Freundin Erin kämpfen, zur Not mit ihr aus der Stadt und aus dem Reich fliehen. Doch Erin hat sich längst mit dem gesellschaftlichen, patriarchalen Korsett abgefunden, in das sie gezwängt werden soll. Zumal drakonische Strafen auf diejenigen warten, die eine Flucht wagen: Den Flüchtigen drohen Arbeitslager oder Tod und ihren Familien der finanzielle Ruin. Auf dem Ball eskaliert die Situation und Sophia lernt die ganze Brutalität des Herrschers kennen – und flüchtet aus dem Palast. Ihre Hast endet ausgerechnet an einem Ort, den sie für ein Hirngespinst gehalten hat: Cinderellas Grab. Dort begegnet ihr die geheimnisvolle Constance. Sie kennt eine Version der Geschichte, die den König in keinem guten Licht erscheinen lässt.


Kalynn Bayron. Foto © privat

Kalynn Bayron gehört nicht zu den typischen Debütantinnen. Sie ist keine ehemalige Literaturstudentin, keine Buchhändlerin, keine Texterin, sondern ausgebildete Sängerin mit einem Faible für die Oper. Irgendwann wurde für sie der Drang zu groß, Geschichten zu erzählen. Herausgekommen ist eine Nacherzählung, die „Aschenputtel“ einerseits für eine diverse Leserschaft öffnet, für queere Jugendliche und BIPoC. „Cinderella ist tot“ ist andererseits auch ein Spiegelbild all derjenigen Probleme, denen – queere und nicht-queere – Frauen in der Realität ausgesetzt sind.

Sophia sieht Tag für Tag, was das vom König gewaltsam durchgesetzte Patriarchat anrichtet: Frauen sind Menschen zweiter Klasse ohne Rechte aber mit umso mehr Pflichten. Kaum verheiratet sind sie ihren Männern regelrecht ausgeliefert und gehört häusliche Gewalt zum Alltag. Immer wieder begegnen Sophia grün und blau geschlagene Ehefrauen und deren verängstigte Kinder. Und die unverheirateten Frauen? Hier ist der alltägliche Sexismus noch die kleinste Schikane. Legitimiert wird all dies mit Cinderellas Geschichte, der de facto Ideologie des Königreichs. Der Tenor: Frauen, die sich an der verblichenen Königin orientieren, haben ein erfülltes und glückliches Leben. Dass die auf dem Ball geschlossenen Zwangsehen für die jungen Mädchen in einem Albtraum enden, stand natürlich nirgendwo geschrieben. 200 Jahre nach Cinderellas Tod rebelliert nun eine junge Frau gegen den Status quo, kämpft für mehr Gleichberechtigung und gegen einen monströsen König.

Kalynn Bayrons dystopisches Debüt „Cinderella ist tot“ ist ein erfreulich frischer Blick auf das altbekannte Märchen. Sie entfernt sich von der so prägenden „Disney“-Verfilmung, führt die Mär zurück zu ihren Wurzeln und blickt hinter die gar nicht märchenhafte Macht des Königs. Zwar ist ihre Schreibe noch nicht perfekt, doch der ewige Kampf zwischen Gut und Böse zieht einen in seinen Bann. Bayrons Erstlingswerk ist aber vor allem eines: Ein Plädoyer, gegen Ungerechtigkeiten aufzubegehren und so leben zu dürfen, wie man will.

Kalynn Bayron: Cinderella ist tot • Aus dem Amerikanischen von Antonia Zauner • Heyne, München 2022 • 384 Seiten • 18,00 € • im Shop • Empfohlen für ältere Jugendliche und erwachsene Märchenfans

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