5. März 2023

„The Fantastic Gustave Doré“ – Ein Meister des Phantastischen

Ein spektakulärer Bildband zeigt das Werk des legendären Graphikers

Lesezeit: 3 min.

Er war Spezialist für Illustrationen von Texten, Nein, kein Comiczeichner, aber irgendwie schon: Der Franzose Gustave Doré arbeitete kaum 30 Jahre, von Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu seinem frühen Tod im Jahre 1883, und schuf dabei laut der Zählung, die 1931 für eine Gesamtausgabe seiner Werke durchgeführt wurde, sagenhafte 11.013 Arbeiten, darunter 9850 Zeichnungen, dem Kern seines Ruhms.

Leser von Klassikerausgaben werden Doré vielleicht irgendwann eher zufällig entdeckt haben, zum Beispiel bei der Lektüre von Miguel Cervantes „Don Quijote“, den Doré mit 370 Zeichnungen illustrierte. 17 von ihnen finden sich neben über 350 anderen nun in dem spektakulären, bibliophilen Band The Fantastic Gustave Doré“ (im Shop), den Prestel auf Englisch veröffentlicht. Übersetzt wurde aus der französischen Originalausgabe für die die Kunsthistoriker Alix Paré und Valérie Sueur-Harmel eine Auswahl quer durch die Arbeiten Doré trafen.

In den drei Drucktechniken Lithographie, Radierung und Reliefdruck arbeitete Doré, vielleicht zur genau richtigen Zeit: Mitte des 19. Jahrhunderts war der Buchdruck weit verbreitet und günstig genug, um auch höhere Auflagen finanzierbar zu machen, was wiederum Voraussetzung für die Arbeit Dorés war. Andererseits waren noch keineswegs weite Teile der Bevölkerung des Lesens mächtig, ein weiter Grund für die damalige Beliebtheit von Illustrationen populärer, nicht zuletzt phantastischer Texte.

Dazu darf man getrost auch die Bibel zählen, auch wenn damals das phantastische Element sicherlich noch nicht allzu sehr im Mittelpunkt der Lektüre stand. Dennoch atmen Dorés 1865 erschienene Illustrationen der Bibel den Aten des Phantastischen, der weite Teile seines Werkes auszeichnet: Egal ob Moses auf dem Berg, Noah, David und Goliath oder natürlich Jesus: Etwas irreales, übernatürliches haftet dieses Illustrationen an. Passenderweise hatte Doré einige Jahre zuvor John Miltons legendäres Poem „Paradise Lost“ illustriert, im unvollendet gebliebenen Versuch, eine lange Liste berühmter Werke zu illustrieren. Was Doré zu den Klassikern der Antike wie Homer oder Ovid eingefallen wäre, muss offen bleiben, ebenso wie er Shakespeares Historien und vor allem die phantastischeren Elemente im Werk des Barden bebildert hätte.

Dorés Interesse war breit: Von seinen Landsmännern Rabelais und Balzac, über Dante und Poe, bis zu Rudolf Erich Raspe, dem ursprünglichen Autor des Münchhausen. Riesen, Drachen, Meereswesen, Ritter, Edelmänner, Engel zeigen die Illustrationen, realistische und fantastische Landschaften, melancholische Szenen und dramatische Momente der Weltliteratur. Angesichts dieser stilistischen und thematischen Bandbreite überrascht es nicht, dass Doré als einer der Urväter des Comics gelten kann, dass er Künstler von Salvador Dali über Max Ernst bis Walter Moers inspirierte, wobei letzterer dem Vorbild in „Wilde Reise durch die Nacht“ (im Shop) auf besonders originelle Weise huldigte.

Besonders überraschend sind jedoch Dorés Ausflüge in realistischere, naturalistische Gefilde: Reiseberichte und Kriegsreportagen illustrierte er, teils ohne vor Ort gewesen zu sein. Aus erster Hand kannte Doré jedoch das viktorianische London, wo er dank eines für damalige Verhältnisse extrem hoch dotierten Vertrages mehrere Monate verbrachte. Für die Reportage „London: A Pilgrimage“ schuf Doré faszinierend detailreiche Illustrationen des Lebens der Unterschicht der Metropole: Dockarbeiter, Kneipenbesucher, Gefängnisinsassen, Bettler, Besucher einer Opiumhöhle.

1872 erschien dieses Buch, keine 20 Jahre vor dem thematisch sehr ähnlichen „How the Other Half Lives.“ Doch dafür konnte der Däne Jacob Riis die Armen New Yorks schon fotografisch dokumentieren, hatte sich die Kunst der Illustration überlebt. Genau in der richtigen Phase lebte und arbeitete Gustave Doré also, welch enormes, vielseitiges, in doppelter Hinsicht phantastisches Werk er der Kunstgeschichte hinzugefügt hat, lässt der nun bei Prestel erschienen Prachtband spektakulär nachvollziehen.

Alix Paré, Valérie Sueur-Hermel: The Fantastic Gustave Doré • Sachbuch • Prestel, München 2013 • Hardcover (engl.), Halbleinen, 480 Seiten • 23 farbige Abbildungen, 380 s/w Abbildungen; mit 3D-Prägung und drei verschiedenen Folienprägungen auf der Covervorderseite und Rücken; Banderole mit Prägungen; Farbschnitt mit Buchtitel • € 59,- • im Shop

 

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