11. Juni 2018 3 Likes

Klone, wollt ihr ewig leben?

Mur Laffertys Deutschlanddebüt „Das sechste Erwachen“ ist ein Sci-Fi-Thriller der Extraklasse

Lesezeit: 4 min.

Irgendwo im All, im Jahr 2493. Seit knapp 25 Jahren befindet sich das Generationenschiff „Dormire“ auf seiner 400 jährigen Reise zum Planeten Artemis. An Bord befinden sich 2.500 Passagiere im Kryoschlaf. Gesteuert wird das Schiff durch eine aus Klonen bestehende sechsköpfige Crew und eine mächtige KI. Doch irgendetwas ist gewaltig schief gelaufen. Als Maria in einem neuen Klonkörper erwacht, sieht sie nicht nur Blut in dem für das Klonen konzipierten Raum. Sie und die anderen Crewmitglieder werden mit einem Anblick konfrontiert, den sich keiner von ihnen wünscht: vier Leichen schweben in der Schwerelosigkeit. Jemand hat anscheinend die gesamte Crew umgebracht, die KI manipuliert und das Schiff vom Kurs abgebracht. Nur wer? Es kommt nur einer aus der Besatzung in Frage…

Mit „Das sechste Erwachen“ erscheint im Juni der erste Roman der US-Amerikanerin Mur Lafferty auf Deutsch. In ihrer Heimat ist sie allerdings keine Unbekannte. Sie gilt als ungekrönte Podcast-Königin, die u. a. ihre Superhelden-Satire „Playing for Keeps“ als kostenlosen Hörbuchpodcast veröffentlichte. Weitaus populärer ist Lafferty für ihren Podcast „I Should Be Writing“, in dem sie seit 2005 über die Hochs und Tiefs im Autorenleben berichtet. Nicht nur ihre Podcasts sind inzwischen preisgekrönt: 2013 gewann sie den „John W. Campbell Award for Best New Writer“ für ihre Kurzgeschichte „1963: The Argument Against Louis Pasteur“. Im selben Jahr erschien außerdem der erste Band ihrer Urban Fantasy-Reihe „The Shambling Guides“, ihre erste Veröffentlichung bei einem großen Publikumsverlag. „Das sechste Erwachen“ zählt sicherlich zu einem der Höhepunkte ihrer Karriere – für ihren Science Fiction-Roman ist sie für gleich drei große Genrepreise nominiert: den Philip K. Dick Award, den Nebula Award und den Hugo Award. Und das völlig zurecht!

Was die Sicence-Fiction wirklich perfektioniert hat, sind die zukunftsweisenden Technologien. Klone – und ihre Vorfahren, die Replikanten – gehören seit Jahrzehnten zum Genre dazu. Egal ob es sich dabei um Kämpfer wie die Klonkrieger aus „Star Wars“ handelt, um lebende Ersatzteillager für wohlhabende Menschen wie in Birgit Rabischs „Duplik Jonas 7“ oder Kazuo Ishiguros „Alles, was wir geben mussten“, oder um die wahr gewordene Fantasie eines Mannes, der Geschichtsrevision betreiben möchte (Ira Levins „The Boys from Brazil“) – die Einsatzmöglichkeiten für Klone sind schier grenzenlos. Laffertys Klonbesatzung wandelt hingegen eher auf den Spuren von Autoren wie A. E. van Vogt („The World of Ā“) , Jack Vance („Kaste der Unsterblichen“) und Roger Zelazny („Herr des Lichts“, im Shop), die sich in ihren Geschichten u. a. mit der Möglichkeit befassen, wie Menschen durch Identitätsübertragung beinahe unsterblich werden könnten. Dies ist auch eine der Prämissen in „Das sechste Erwachen“: alle Klone haben ihre Gehirne scannen und „Mindmaps“ von ihnen erstellen lassen, sodass sie jederzeit auf das Vorwissen ihrer Vorgängerkörper zugreifen können. Sie profitieren von Jahrhunderte altem Wissen und der Regelung, sich selbst als Erbe einsetzen zu müssen. In Rückblicken nähert sich Lafferty dabei auch den ethischen und moralischen Abgründen, die sowohl das Klonen als auch das DNA- und Mindmap-Hacking mit sich gebracht haben. Nicht von ungefähr stellt die Schiffsärztin Joanna an einer Stelle konsterniert fest, dass das Leben durch Klone gering geschätzt wird.

„Das sechste Erwachen“ verknüpft die rechtlichen und gesellschaftlichen Aspekte der Klontechnik mit dem Besten aus der Welt des Mysteryromans und der der Science-Fiction: ein Whodunit-Szenario in einem geschlossenen Raum im All! Laffertys Helden wider Willen sind allesamt Verbrecher, die sich durch ihren Dienst einen Neuanfang erarbeiten können. Dies allein trägt schon dazu bei, dass die Atmosphäre an Bord unglaublich angespannt ist. Im weiteren Verlauf macht sich zunehmend Paranoia breit: wem kann man trauen, wem nicht? Egal ob die Kapitänin Katrina, der Erste Offizier Wolfgang, der Pilot Hiro, die Ärztin Joanna, der Ingenieur Paul oder die Köchin/das Mädchen für Alles Maria, jeder von ihnen könnte der Täter sein. Selbst die allwissende, sehr menschliche KI IAN scheint weitaus mehr zu sein als ein durch Algorithmen bestimmtes Computerprogramm. Langsam kommen der Besatzung und dem Leser Zweifel an den Motiven der Klone für ihr Handeln und sie stellen sich die Frage, ob sie überhaupt als Team zusammenarbeiten können.

Lafferty schafft es nicht nur, jeden verdächtig erscheinen zu lassen, sondern gibt ihren Figuren auch die notwendige charakterliche Tiefe, um mit ihnen mitzufiebern und zu leiden. Schnell bauen sich Sympathie und Antipathie auf, erscheinen manche Crewmitglieder menschlicher als andere. Eines von ihnen fungiert quasi als Bindeglied zwischen allen anderen und hat deren Schicksale mehr geprägt als ihnen lieb ist. Und dann ist da noch die geheimnisvolle und gefürchtete Sallie Mignon, der wohl bekannteste Klon der Welt, der über Jahrhunderte hinweg seine gänzlich eigenen Pläne schmiedet. Wie ihre Geschichte mit denen der anderen zusammenhängt, sei an dieser Stelle jedoch nicht verraten.

Mur Laffertys „Das sechste Erwachen“ ist ein spannender Science-Fiction-Thriller voller genialer Twists, atemberaubender Technologien, faszinierenden Helden und menschlichen Abgründen. Der wahrscheinlich beste Klonroman dieses Jahrzehnts vereint das Beste aus der Welt des Kriminalromans mit dem der Phantastik. Fans beider Genres können genauso bedenkenlos zugreifen wie die Liebhaber klassischer, gut geschriebener Pageturner.

Mur Lafferty: Das sechste Erwachen • Aus dem Amerikanischen Bernhard Kempen • Wilhelm Heyne Verlag, München 2018 • 480 Seiten • 9,99 € (im Shop)

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