15. März 2016 1 Likes

Meister Dorstel, der altehr­würdige Brutmeister von Krusendorf

Ein wagemutiger Genremix: Christopher Eckers „Der Bahnhof von Plön“

Lesezeit: 4 min.

Es scheint ein Widerspruch in sich zu sein: Ein Autor aus Deutschland, der Jack Vance und Gene Wolfe verinnerlicht hat, schreibt einen Roman, der als ernsthafte Literatur gelesen werden kann und dennoch eine verblüffend spannende Geschichte erzählt. Genau dies ist bei „Der Bahnhof von Plön“ der Fall, ein Buch, das wie ein düsterer Thriller beginnt, dann in eine seltsame Fantasy-Welt überleitet und sich schließlich als Science-Fiction entpuppt. Ein wagemutiger Genremix, der aber an jeder Stelle plausibel bleibt – natürlich auch, weil der Verfasser ein paar doppelte literarische Böden eingezogen hat.

Allerdings fällt es schwer, über das Buch zu schreiben, wenn man keine Pointen verraten will. Der in New York lebende Ich-Erzähler – man erfährt erst sehr spät, dass ihm seine Pflegeeltern den Namen „Phineas“ gegeben haben – erhält den Auftrag, ein Hotelzimmer voller Leichen leerzuräumen. Dahinter steht eine einflussreiche Gestalt, die er den „Lotsen“ nennt und die ihn mit einigem Vergnügen schikaniert. Abgesehen davon, dass sich die zahlreichen Toten bereits in einem schauderhaften Zustand befinden, stellt sich für Phineas eine erhebliche Sinnfrage, denn er soll die Körper über einen zweiten Hotelraum in einen dritten verfrachten – mehr nicht. Warum der Umweg? Oder geht es um eine besonders perfide Art von Beschäftigung, die Phineas von anderen Dingen – etwa dem Nachdenken – abhalten soll?

Tatsächlich ist Phineas nicht der leicht orientierungslos wirkende Schnapstrinker, der er zu sein scheint. Zum einen vermag er aus einer fahrenden U-Bahn von New York nach Paris, Amsterdam und Kiel zu „springen“ und somit mühelos von einem Ort zum nächsten zu gelangen. Zum anderen hat er seltsame Erinnerungen an eine Zeit, in der er als Kind die Sprache der Tiere verstand und der Sohn eines mächtigen Herrschers war, dem bis zu seinem Tod eine große Festung im Dänischen Wohld gehörte. Und es gibt nicht zuletzt unter den ehemaligen Getreuen seines Vaters Anzeichen dafür, dass Phineas dessen Platz einnehmen soll … wenn er denn in dem, was er erzählt, überhaupt glaubwürdig ist.

Der 1967 in Saarbrücken geborene Christopher Ecker ist der Phantastik eng verbunden. Bereits sein Tausend-Seiten-Roman „Fahlmann“ (2012), den der Kritiker Denis Scheck eines der „großen Leseabenteuer der Gegenwartsliteratur“ nannte, arbeitete mit entsprechenden Elementen; und auch der erheblich knapper gehaltene Band „Die letzte Kränkung“ (2014) hätte in einer Genrereihe erscheinen können. Ecker war brieflich mit Thomas M. Disch befreundet, dessen späte Gedichte er übersetzt und über dessen Werk er im SCIENCE FICTION JAHR 2009 einen langen Aufsatz geschrieben hat; entsprechend ist es kein Zufall, wenn „Der Bahnhof von Plön“ zum Teil in Dischs ehemaligem Appartement am Union Square spielt – es dient Phineas in New York als Unterkunft. Ecker teilt mit Disch das Thema der menschlichen Verlorenheit, die sein Werk in vergleichbarer Weise durchzieht und auch in „Der Bahnhof von Plön“ eine Rolle spielt. So geht Phineas die Gabe der Teleportation, über die er zunächst verfügt, im Laufe einiger Operationen verloren, was ihn ähnlich trifft wie jeden Menschen die Einschränkungen des Altwerdens. Wer will, kann hierin eine Parallele zu Robert Silverbergs berühmtem Roman „Es stirbt in mir“ von 1972 (im Shop) erkennen, der dieses Ohnmachtsgefühl am Beispiel schwindender telepathischer Kräfte umsetzt.

Um Verlust geht es auch in den Fantasy-artigen Passagen aus der Kindheit des Erzählers, bei deren Ausgestaltung die Welten von Gene Wolfe und Jack Vance sichtlich Pate gestanden haben: „Ich erinnere mich noch gut an Meister Dorstel, den altehr­würdigen Brutmeister von Krusendorf, einen schwerfälligen, leicht reizbaren Mann mit Triefaugen und der Körperhaltung eines angreifenden Ebers, der bei Festen stets unter Hochrufen zur Bühne geführt wurde. Dort reichte man ihm eine dornige Gartze, zwischen deren Zinken blaue Funkenbogen knisterten, und eine oder zwei gestimmte Nymphen; der liebliche Gesang, den er ihnen entlockte, war nicht von dieser Welt. Und das ist buchstäblich zu verstehen.“ Doch die Idylle des Jünglings findet ein jähes Ende, als die Feste seines Vaters fällt und er sich – nach einem langen Kälteschlaf in einer vergrabenen Raumkapsel – unter die Menschen geworfen sieht, buchstäblich ein Sehender unter Blinden.

Dass sich „Der Bahnhof von Plön“ als teils finstere und teils farbenprächtige, bisweilen auch philosophisch grundierte Abenteuergeschichte lesen lässt, ist nicht zuletzt Eckers stilistischen Fähigkeiten zu verdanken. Das Buch bietet dem, der sich darauf einlassen mag, aber noch mehr. Es geht um die Unfähigkeit des Individuums, seinen Platz in einer Welt zu finden, in der Machtausübung und Machtmissbrauch an der Tagesordnung sind. Phineas sinniert öfters über Théodore Géricaults Gemälde „Das Floß der Medusa“, das im Louvre hängt: Beim Untergang einer französischen Fregatte im Jahr 1816 waren Schiffbrüchige bewusst auf einem behelfsmäßigen Floß im Stich gelassen worden, worauf sie dem Kannibalismus anheimfielen. Ein treffenderes Sinnbild für den „Krieg aller gegen alle“ lässt sich schwerlich finden.

Spätestens dann, wenn die Handlung beim titelgebenden Bahnhof von Plön angelangt ist (den es wie die meisten Schauplätze in dem sorgfältig recherchierten Roman wirklich gibt), kommt noch ein weiterer und durchaus komischer Aspekt ins Spiel: Vielleicht ist Phineas bloß ein psychisch angegriffener Studienrat, der zu viel Phantastik gelesen hat. Das würde einige der Unglaubwürdigkeiten erklären, die er dem Leser zumutet. Doch was stimmt? Und was kann überhaupt stimmen? „Sind erst einmal die Sicherheiten geschwunden, weiß man, dann ist alles möglich, alles denkbar“, heißt es an einer Stelle im Buch. Möglich ist vieles in diesem Roman, der sich literarischen Zuordnungen gekonnt entzieht – und ganz nebenbei der ambitionierten Science-Fiction neue Spielräume eröffnet.
 

Christopher Ecker: Der Bahnhof von Plön • Mitteldeutscher Verlag • 400 Seiten • € 22,95

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