1. Dezember 2019 1 Likes

Nichts zu verlieren

„Boy in a Dead End“: Karl Olsbergs Prequel zu „Boy in a White Room“

Lesezeit: 3 min.

Das Leben ist schön und grausam zugleich. Für Manuel ist es vor allem ein kurzes Leben. Der 15-jährige leidet unter einer aggressiven Form der ALS (Amyotrophe Lateralsklerose). Seine Nerven degenerieren unaufhaltsam. Inzwischen ist er fast vollständig gelähmt und angewiesen auf die Hilfe seines vorlauten KI-Roboterstuhls Marvin und seiner Familie. Seine Ärzte geben ihm noch gerade sechs Monate Lebenszeit. Hoffnung keimt auf, als Manuels Vater von der Möglichkeit eines Transfers hört: Manuel könnte sein Gehirn scannen lassen und so in einer virtuellen Umgebung weiterleben. Dabei würde er jedoch sterben. Ist das der Ausweg aus der Sackgasse oder ein Pakt mit dem Teufel?

Mit „Boy in a White Room“ gelang Karl Olsberg vor zwei Jahren ein Überraschungserfolg. Seine Geschichte über einen Jungen, der erkennen muss, wer beziehungsweise was er ist, wurde für den „SERAPH“-Phantastikpreis und den „Deutschen Jugendliteraturpreis“ nominiert – und das vollkommen zurecht. Auf den philosophischen Diskurs folgte im vergangenen Jahr ein religiöser: „Girl in a Strange Land“. Während in „Boy in a White Room“ die Technikgläubigen und ihre Probleme im Fokus stehen, lernt Sophia in „Girl in a Strange Land“ die religiös-fanatische Gegenbewegung kennen. Immer mit dabei: Die allwissenden Titanen, mächtige Künstliche Intelligenzen, die das Leben der Menschen quasi (fremd-)bestimmen. „Boy in a Dead End“ verknüpft nun beide Romane und erklärt, wie es zu den späteren Zuständen im Jahr 2057 kommt.

In Hamburg des Jahres 2031 sind die Anfänge der Titanen und der Einfluss von Algorithmen allgegenwärtig: Marvin ist mit der auf Gesundheit spezialisierten KI METIS verbunden, Amazon liefert ungefragt Dinge nach Hause, autonom fahrende Autos und fliegende Flugzeuge sind Alltag – da kann der Pilot schon mal den Steward spielen. Lichtblick in Manuels eingeschränktem Alltag ist das VR-Spiel „Team Defense“. Mit minimalen Muskelbewegungen schafft er es, in dem postapokalyptischen Shooter mit Freunden zu siegen und zu verlieren, fast so wie ein normaler Teenager in seinem Alter.

„Team Defense“ ist dann auch das Tor zu „Nofinity“, dem Nebenprojekt von Spieleentwickler Henning Jaspers. Er verspricht Manuel und seiner Familie nichts Geringeres als die Unsterblichkeit im virtuellen Raum – auch wenn der Junge dabei sterben wird. Doch was hat ein Todkranker schon zu verlieren? Für Manuel und seinen Vater ist es der vermeintlich letzte Strohhalm, für seine Mutter Blasphemie und der Eintritt ins Fegefeuer. Zwischen den Stühlen steht seine Schwester Julia und versucht die Familie zusammen zu halten. Doch nach und nach kommen auch ihr Zweifel an Jaspers philanthropischen Bemühungen, die er gekonnt für PR-Zwecke in Szene setzt. Ist er am Ende doch ein Scharlatan? Jaspers polarisiert und sorgt im Bergdorf einer religiösen Sekte für eine Entscheidung, die Manuel beinahe das Leben kostet.


Karl Olsberg. Foto © Loewe Verlag GmbH

So unterhaltsam und spannend auch die beiden Vorgängerbände waren, so schwer fällt die Lektüre von „Boy in a Dead End“. Denn bei aller Fiktion, trotz aller Science Fiction-Elemente, lässt sich nur schwer verdrängen, dass es Jungen, Mädchen und Erwachsene wie Manuel gibt, die sich tagtäglich mit ihrem eigenen Tod befassen müssen. Da bleibt der Kloß im Hals beim Lesen nicht aus – denn egal welchen Weg Manuel geht, der Tod bleibt unausweichlich. Olsberg nutzt diesen Erzählstrang, um seine (meist jungen) Leser mit medizinethischen, philosophischen und auch religiösen Fragen zu konfrontieren. Wie weit darf die Medizin gehen, um Leben zu erhalten? Welchen Sinn hat ein Leben mit absehbarem Ende? Warum hat Gott ein Interesse daran, junge Menschen so leiden zu lassen?

Setzten sich „Boy in a White Room“ und „Girl in a Strange Land“ vor allem mit den Auswirkungen von KI und VR auf den Alltag auseinander, geht es in „Boy in a Dead End“ noch viel stärker um Ethik und Moral, um Hoffnung und Scheitern, kurz: um die Verheißungen des Transhumanismus. Dank Manuels Schwester Julia gibt es zudem eine weitere Person, die das Geschehen kommentiert. „Boy in a Dead End“ schafft es dann auch, eine Brücke zwischen „Boy in a White Room“ und »Girl in a Strange Land« zu schlagen. Mit dem Prequel schließt Olsberg einige Wissenslücken aus den Vorgängerbänden. Gleichzeitig erzählt er eine packende Geschichte um Leben und Tod, die keinen kalt lässt. Eine wirklich gelungene Ergänzung zur Buchreihe – und hoffentlich noch nicht ihr Abschluss.

Karl Olsberg: Boy in a Dead EndLoewe, Bindlach 2019 320 Seiten • 14,95 €

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