2. Juni 2019 3 Likes

Surrealer Freiheitskampf

China Miévilles Alternativwelt-Novelle „Die letzten Tage von Neu-Paris“

Lesezeit: 2 min.

Schon 2016 legte China Miéville (im Shop), Genre-Punk, Fantastik-Intellektueller und bekennender Sozialist, die Novelle „The Last Days of New Paris“ vor. Nun ist die historische Alternativweltgeschichte der etwas anderen Art als „Die letzten Tage von Neu-Paris“ in der Übersetzung von Andreas Fliedner bei Golkonda auf Deutsch erschienen.

Miéville erzählt im Buch von einem bizarren Paris, das während des Zweiten Weltkriegs von der S-Bombe getroffen wurde, woraufhin sich die surrealistische Kunst in der besetzten, abgeriegelten französischen Hauptstadt manifestiert hat. Freiheitskämpfer wie der junge Thibaut, der ein magisches Schutz-Nachthemd trägt und von einer furchtlosen Fotografin und Buchautorin begleitet wird, haben in der zerstörten Metropole 1950 nicht nur mit den Nazis oder den von diesen beschworenen Dämonen aus der Hölle zu tun, sondern auch mit ebenso traumhaften wie albtraumhaften Manifestationen lebendig gewordener Kunstwerke und Gedanken des Surrealismus: verrückten Chimären, verdrehten Leichen und verschmolzenen Monstern. Zwischendurch berichtet Miéville davon, dass der amerikanische Raketenwissenschaftler und Okkultist Jack Parsons, ein Lieblingsschüler Aleister Crowleys, 1941 kurz innerhalb einer Gruppe Surrealisten im besetzten Marseilles wandelte, was nicht ohne Folgen blieb. Im Nachwort macht Miéville seine im wahrsten Sinne des Wortes surrealistische Alternativweltgeschichte dann noch zu einem echten Stück Metafiktion. Ein ausgiebiger, dringend nötiger Anhang erläutert indes die Bilder und Begriffe des Surrealismus, die in Miévilles Erzählung ein beeindruckendes Eigenleben entwickeln und die Imagination des Leser schier überlasten – wobei alles in Neu-Paris auf der imposanten Surrealismus-Versiertheit Miévilles basiert, der in der Vergangenheit selbst von Kritikern dem urbanen literarischen Surrealismus zugeordnet wurde.

Ob er dieses Etikett mag, steht auf einem ganz anderen Blatt. Der 1972 geborene Engländer, der u. a. den Arthur C. Clarke Award und den Hugo gewann, kämpft seit jeher gegen Schubladendenken, Traditionen und Muster der fantastischen Genres. Mit dieser Novelle wird er mehr denn je zum Partisanen der modernen Fantastik. Der eigentliche Plot ist dabei längst nicht so stark, geschweige denn fesselnd. Kraftvoller und wichtiger sind die einzelnen Ideen und Szenen, die unwirklichen Bilder und Momente und Manifestationen, die eine auf Hochtouren laufende Vorstellungskraft des Lesers unter Beschuss nehmen, sowie die historischen und künstlerischen Einflüsse, die Miéville verarbeitet, arrangiert, remixt, verwebt. Doch der Freiheitkampf des Fantastik-Superstars bleibt nicht ohne Folgen, und so kommen Werke wie „Dieser Volkszähler“ oder eben jetzt „Die letzten Tage von Neu-Paris“ auf Deutsch nicht sofort bei einem großen Verlag und landen nach einer Weile bei einem kleineren Spezialverlag – und dafür muss man als Fan sicher noch dankbar sein.

Wer sich schon immer fragte, woher Autoren im Allgemeinen und China Miéville im Besonderen ihre teils abgefahrenen Ideen nehmen und woraus sie Inspiration schöpfen, findet in „Die letzten Tage von Neu-Paris“ mehr als eine Teilantwort. Selbst wenn er dafür einige Mühe auf sich nehmen und sich durch ein surrealistisches Kriegsgebiet kämpfen muss.

China Miéville: Die letzten Tag von Neu-Paris • Golkonda, München/Berlin 2019 • 250 Seiten • Paperback m. Klappenbroschur: 18,00 Euro

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