Viel Handlungsmacht: „Agency“ von William Gibson
Kompliziert, aber cool und cutting edge: Der neue Roman des Cyberpunk-Meisters
1984 definierte William Gibson, 1948 in den USA geboren, jedoch seit 1967 in Kanada lebend, mit „Neuromancer“ das Cyberpunk-Genre. Unsere Vorstellung des Internets, das Wort Cyberspace, die „Matrix“ – Gibson hat wesentlich mehr getan, als nur ein Subgenre der Science-Fiction zu begründen. Bis heute schreibt der inzwischen 72-jährige SF-Veteran starke Zukunftsliteratur, die sich meist nach elektrisierender Gegenwartsliteratur anfühlt. Eigentlich hätte sein neuester Roman „Agency“, das Sequel zu „Peripherie“ von 2014, bereits viel früher erscheinen sollen. Doch die 2016er Präsidentschaftswahlen in den USA zwangen Gibson gleich mehrfach dazu, seinen jüngsten Cyberpunk-Roman umzuschreiben. Dieses Jahr kam „Agency“ nun endlich heraus, und bei Tropen liegt seit Ende September die deutschsprachige Ausgabe als Hardcover und E-Book vor.
Wir erinnern uns: In „Peripherie“ schuf Gibson ein postapokalyptisches London des 22. Jahrhunderts – eine bizarre Hightech-Welt nach der als Jackpot bezeichneten Apokalypse. In dieser Zukunft steht man auf antikes Cosplay und hat man vor allem einen Weg gefunden, um mittels hochentwickelter Server-Technologie Verbindung mit anderen Kontinuitäten bzw. Zeitsträngen in der Vergangenheit des 21. Jahrhunderts aufzunehmen. Man kann sogar bis zu einem gewissen Grad mit diesen so genannten Stubs interagieren und sie beeinflussen. In jenen Nebenarmen des Zeitverlaufs sind Menschen wie Wilf Netherton aus der Post-Jackpot-Zukunft aber auf Telekommunikation und Hightech-Drohnen als Avatare angewiesen. Ihre Handlungsmacht in der alternativen Vergangenheit – „Agency“ auf Englisch – ist demnach recht eingeschränkt, selbst wenn sie dank Agenten möglichst fortschrittliche Technik zu ihrem Vorteil herzustellen.
In „Agency“ nehmen Wilf und Co. diesmal Kontakt zur App-Flüsterin und Alpha-Testerin Verity Jane in einem 2017 auf, wo eine Präsidentin (nicht Hillary) im Weißen Haus sitzt. Waldbrände wüten außerhalb von San Francisco (erschreckend aktuell), und an der türkischen Grenze spitzt sich ein Konflikt zu, der das Potential hat, diese Kontinuität mit einem Atomkrieg zu vernichten und einen eigenen Jackpot zu kreieren. Das wollen Wilf und seine strenge Chefin verhindern. Verity ist für ihr Vorhaben deshalb so interessant, weil sie die neuartige, hoch entwickelte künstliche Intelligenz Eunice testet – eine selbstständige KI mit einer gewaltigen Handlungsmacht, wie es noch keine gegeben hat. Doch die Firma, in deren Obhut Eunice’ erwachte, macht schließlich Jagd auf Eunice und Verity. Gut, dass Wilf und andere – darunter ein paar Bekannte aus „Peripherie“ – zur Hilfe eilen …
William Gibsons „Agency“ ist von Anfang an perfekter Cyberpunk: Auf einschüchternd brutale Weise cutting edge hinsichtlich Ideen, Tech und Sprache, auf verblüffende Weise nah an unserem aktuellen Weltgeschehen. Allerdings geriet der Roman gern mal etwas kompliziert, was das große Ganze oder selbst den Ablauf kleinerer Szenen angeht. Zudem erweist sich der eigentliche Plot am Ende als eher überschaubar wenn man bedenkt, was für einen Aufwand die Figuren und Gibson betreiben (zweifellos viel Handlungsmacht, aber etwas wenig Handlung, sozusagen). Hin und wieder spürt man darüber hinaus, dass manch eine knappe Szene bloß dem dualen Rhythmus zwischen den Kapiteln dient, demzufolge sich die Kontinuitäten und Perspektiven abwechseln.
Trotz allem schreibt nach wie vor niemand aktuellere oder coolere Cyberpunk-Science-Fiction als Altmeister William Gibson, und als Fan des Genres kann man gar nicht anders, als das Dauerfeuer an krassen Ideen und pulsierender Gegenwärtigkeit zu genießen. Dafür braucht man nicht mal einen Avatar. Gut, dass Gibson am 20. September auf Twitter die Worte „Erster Schritt“ mit einem Foto seines Desktops postete, auf dem eine „Jackpot“ benannte Worddatei zu sehen ist. Die Arbeit am dritten Band hat also begonnen. Vielleicht hätte Gibson aber besser bis nach den anstehenden Wahlen in den USA warten sollen?
William Gibson: Agency • Tropen, Stuttgart 2020 • 492 Seiten • Hardcover: 25 Euro
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