9. August 2021 2 Likes

„ Schwarm der Schrecken“ - Viel zu schade für Netflix

Heuschrecken-Apokalypse mit Hintersinn

Lesezeit: 3 min.

La Nueé“ (zu dt. „Der Schwarm“), der in Frankreich, Spanien und China ins Kino kommt, hierzulande aber leider von Netflix unter dem Tele-5-Titel „Schwarm der Schrecken“ verramscht wird, erzählt eine Geschichte, die auf dem Papier die Erwartungen erstmal tatsächlich in Richtung Tele 5 lenkt: Virginie (Suliane Brahim), alleinerziehende Mutter von zwei Kindern, verdingt sich nach dem Tod ihres Mannes als Heuschreckenfarmerin. Die Insekten bietet sie als proteinhaltiges Nahrungsmittel an, entweder pur oder zu Mehl verarbeitet. Doch die Geschäfte laufen aufgrund der geringen Produktion der Farm schlecht, sie muss sich permanent Geld von Karim (Sofian Khammes), einem alten Bekannten der Familie, leihen, um über die Runden zu kommen, was zu Spannungen mit Tochter Laura (Marie Narbonne) führt, die aufgrund des ungewöhnlichen Broterwerbs ihrer Mutter immer wieder in der Schule gehänselt wird und sich nichts sehnlicher wünscht, als ein ganz normales Leben. Als Virginie eines Tages frustriert alles hinschmeißen will, entdeckt sie durch einen Unfall etwas Sonderbares: Die Heuschrecken naschen an ihrem Blut und diejenigen, die an ihrem Blut genascht haben, werden größer, vitaler und vor allem vermehrungsfreudiger. Die verzweifelte Unternehmerin schöpft Hoffnung, füttert die Tiere ein weiteres Mal mit ihrem Lebenssaft und erweitert aufgrund der positiven Resultate die Farm – doch Virginie braucht immer mehr und mehr Blut …

Strukturell folgt „Schwarm der Schrecken“ artverwandten Vertretern. Früh wird die potentielle Bedrohung etabliert und dann graduell gesteigert, bis sich schlussendlich eine direkte Bedrohung für Leib und Leib ergibt, die nicht alle bis dato ins Spiel gebrachte Protagonisten überleben. Doch der ästhetisch und akustisch atemberaubend umgesetzte Debütfilm von Regisseur Just Philippot will sich nicht an Genre-Konventionen verschwenden. Das Bedrohungsszenario wird mit präzise getakteter Gemütsruhe saufgebaut und dadurch so verbreitert und intensiviert, dass Philippot auf einer zweiten Ebene noch von einer weitaus größeren, universellen Gefahr erzählt: Armut. Der springende Punkt ist: Seine spröde, unzugängliche Protagonistin (sagenhaft gespielt von Suliane Brahim, deren Gesicht und Mimenspiel eine Menge Drehbuchseiten überflüssig macht) handelt, wie sie handelt, aus Angst vor dem sozialen Absturz, aus einer Verzweiflung, die so groß ist, dass sie sich aufgrund ihres Verlangens nach finanzieller Sicherheit freiwillig aussaugen lässt. Damit lehnt sich „Schwarm des Schreckens“ im Subtext auf gewisse Weise an den Begriff „Heuschreckenkapitalismus“ an, zudem wird dem Geschehen damit eine unterschwellige Tragik beigemischt, die man in einem Film über blutdürstige Heuschrecken nicht unbedingt vermuten würde.

Und da wir gerade beim Geld sind: Wer sich beim Ansehen fragt, wieso die Heuschrecken so verflucht echt aussehen und wieso Hollywood nie so geile Effekte hinkriegt: Da es sich um eine kleine Produktion handelte und das Geld für teuren Computerfirlefanz somit nicht vorhanden war, wurde mit 4000 - 5000 (!) echten Heuschrecken gedreht. Das sieht natürlich absolut phänomenal aus. Zuschauer, die mit einer Insektenphobie zu kämpfen haben, sollten dreimal über ein Anschalten nachdenken.

Jedenfalls ganz großes Kino, das eigentlich in ein ganz großes Kino gehört, aber man nimmt, was man kriegt – bleibt einem ja leider nichts anderes übrig.

P.S.: Es lohnt sich zudem 15 Minuten in Philippots 2018 erschienene Dystopie „Acide“ zu investieren – leider komplett auf Französisch, aber auch für Sprachunkundige nicht allzu schwer zu verstehen (Mama, Papa und Sohn fliehen durch eine Welt, in der statt Regen todbringende Säure vom Himmel fällt).

„Schwarm der Schrecken“ (Frankreich 2020) • Regie: Just Philippot • Darsteller: Suliane Brahim, Sofian Khammes, Marie Narbonne, Raphael Romand, Stéphan Castang, Victor Bonnel • seit 6. August auf Netflix

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