Die apolitische Apokalypse
Rette Amerika in „The Division 2“ mit Stil, aber rede bitte nicht darüber
Ich stehe in einem unterirdischen Labor südöstlich des Weißen Hauses. Warum ich hier bin, habe ich schon halb wieder vergessen, doch mein jüngster unmittelbarer Auftrag lautet, einen Dekontaminationsprozess durchzuführen. Der kontaminierte Raum, von dem ich durch eine feuersichere Glasscheibe getrennt bin, war eben noch Schauplatz eines blutigen Schusswechsels, den ich selbstsicher für mich entschieden habe. Er ist bis auf die Leichen meiner Kontrahenten leer. Und dennoch, als ich nun auf Befehl den Knopf an der Wand drücke und sich die Kammer hinter der Scheibe in ein Flammeninferno verwandelt, höre ich Schreie, sehe eine brennende Figur qualvoll zu Boden taumeln.
Ein Schuss Drama eben. Willkommen zu The Division 2.
Vor sieben Jahren machte ein Shooter namens Spec Ops: The Line recht viel Wirbel, weil er eine interessante Frage stellte: Was macht das ganze „Töten auf Befehl“ eigentlich mit den Soldaten, die wir in diesen virtuellen Räumen spielen? Und was sagt es über uns aus, dass wir – ebenfalls wie auf Befehl – die entsprechenden Knöpfe drücken? In einer Schlüsselszene entscheidet der Protagonist, dass es für das Vorankommen seines dreiköpfigen Teams keine andere Chance gibt, als das Areal vor ihnen mit weißem Phosphor zu bombardieren. Anschließend ist man gezwungen, durch die bleiche Hölle zu laufen, die man soeben erschaffen hat. Der Effekt ist verstörend – und treibt den Protagonisten über den Verlauf des Spiels in den Wahnsinn.
Mit all diesen Dingen will The Division 2 nichts zu tun haben. Mein Charakter verbrennt ihre Gegner kommentar- und gewissenlos, sammelt ihre Beute ein und schläft glücklich und zufrieden in dem Wissen, dass sie nur ihre Pflicht tut. Making America Great Again, ein Kopfschuss nach dem anderen.
The Division 2 ist die Fortsetzung der Superviren-Postapokalypse The Division, und es ist – um es vorwegzunehmen – ein mechanisch brillanter, grafisch beeindruckender, technisch exzellenter sogenannter Loot Shooter vom Schlage eines Destiny oder Anthem. Man erledigt alleine oder im Team von bis zu vier Agenten Missionen in einem von Straßenkämpfen und einer Epidemie gebeutelten Washington D.C., um bessere Ausrüstung zu erhalten, damit man schwierigere Missionen in Angriff nehmen kann für noch bessere Ausrüstung, um noch schwierigere Missionen und so weiter …
Die Schleife ist für die Ewigkeit ausgelegt – und The Division 2 gibt sich größte Mühe, meine Aufmerksamkeit auch so lange zu halten.
Inhaltlich setzt das Spiel sechs Monate nach dem ersten Teil der Reihe an. Während im ersten The Division ein eben erst von einem künstlichen Pockenvirus außer Gefecht gesetztes winterliches New York erkundet wurde, befindet man sich nun im schwülen Hochsommer der amerikanischen Hauptstadt. Der Sumpf, in dem die Stadt gegründet wurde, hat viele Orte zurückerobert und die Straßen in überwucherte Feuchtgebiete verwandelt. Die Metropole ist größtenteils verstummt. Man hört Vögel zwitschern und Waschbären zwischen den ausgebrannten Autos keckern, und setzt das unentwegte Gewehrrattern zwei Straßenzüge weiter einmal aus, ist dieses Washington geradezu romantisch in seiner Zerstörtheit.
Massive Entertainment, das Studio, das schon für den ersten Teil verantwortlich zeichnete, lässt auch hier wieder alle Muskeln der hauseigenen Snowdrop Engine spielen. Dichter Morgennebel hüllt die Straßen in wattiges Weiß, sintflutartige Sommergewitter verringern die Sicht auf wenige Meter, nur um sich gleich wieder in gleißendes Sonnenlicht aufzulösen, das den Asphalt zwischen den überwucherten Monumenten zum Dampfen bringt.
Zwischen den großen, fantastischen Effekten entdeckt man in den Straßen und Gassen zahllose Details, welche die Welt zum Leben erwecken. Außerdem regt sich in diesem D.C. auch mehr menschliches Leben als in New York. Zivilisten haben Siedlungen gegründet, deren Versuch eines Wiederaufbaus ich durch Materialspenden und das Erledigen von Aufträgen unterstütze, und patroullieren eigenständig in Gruppen die Straßen.
Fast noch mehr als im Vorgänger hat Massive es hier mit seiner Liebe zum Detail geschafft, die Kulisse ihre eigene Geschichte erzählen zu lassen. In der Welt verstreute Tonbandaufnahmen erzählen teils bewegende, persönliche Anekdoten von Überlebenden, und in sogenannten Echos, holografischen Aufzeichnungen, werde ich immer wieder Zeuge von Szenen, die sich in den letzten sechs Monaten in dieser Stadt abgespielt haben.
Die Qualität dieser Mini-Geschichten ist teilweise so gut, dass ich mich frage, warum die Entwickler ihre augenscheinlich vorhandene Schreibkompetenz im Hauptteil ihres Spiels so eklatant vernachlässigt haben. Denn Division 2 will offenbar auf Teufel komm raus keine bedeutungsvolle Geschichte erzählen. Es will nur, dass ich Spaß habe.
Ich bin ein Agent der Spezieleinheit „The Division“, gesandt nach Washington D.C., um die Ordnung wiederherzustellen (mein Charakter wird von anderen Figuren tatsächlich „Sheriff“ genannt) und Amerika vor „den Bösen“ zu retten. Wer diese Bösen sind, wird kaum erklärt. Man sagt mir nur, dass sie ganz böse Dinge getan haben und immer noch tun. Die Regierung ist zusammengebrochen, rücksichtslose Banden terrorisieren die Stadt – und das darf nicht sein. Also wird geschossen, bis alle tot sind. Die Gerechtigkeit muss schließlich siegen, und Gerechtigkeit, das wissen in den USA selbst die Erstklässler, hat die Form einer M44.
Dieses Schießen ist im Gegenzug entsprechend gut umgesetzt. Gameplay-technisch hat The Division 2 aus so ziemlich allen Fehlern seines Vorgängers gelernt. Die Modifikation der Waffen, das Menü und zahlreiche kleine Systeme wurden sinnvoll überarbeitet und benutzerfreundlicher gestaltet. Die Schwierigkeitsgrade sind wesentlich fairer balanciert als beim Start des ersten Division, Beute und Crafting-Materialien werden in angenehmen Überfluss ausgeschüttet, sind dabei jedoch gleichzeitig besser in die Welt integriert, sodass weit mehr Erkundungsreize entstehen als zuvor.
Auch der Mulitplayer-Aspekt wurde angenehm weiterentwickelt. Das Ein- und Aussteigen in Partien mit anderen Spielern kann jetzt selbst innerhalb von Missionen geschehen, wenn man Schwierigkeiten bekommt. Und die Vielzahl an teils neuen, teils alten Talenten, Waffenmodifikationen und Ausrüstungen und ihren Boni sorgt dafür, dass vor allem und eigentlich erst im Team mit anderen Spielern das wahre Potenzial all der verschiedenen Systeme ineinandergreift und sich von seiner besten Seite zeigt.
Das wahre Spiel beginnt sowieso erst nach Abschluss der Kampagne und dem Erreichen des höchsten Levels. Ab da stehen die PvP-Gefechte gegen andere Spieler in den Dark Zones, die von einer auf drei erweitert wurden, und die Spezialisierung auf eine von drei Klassen zur Verfügung, die mit einem eigenen Fertigkeitenbaum und individuellen Waffen und Mods das Endspiel weiterhin spannend halten. Massive hat sich sichtbar Mühe gegeben, das Debakel zur Veröffentlichung des ersten Teils nicht zu wiederholen und seinen Spielern mehr als genug Anreize zu bieten, so lange wie möglich in diesem postapokalyptischen Washington zu bleiben.
Und damit kommen wir noch einmal zurück zur Geschichte, beziehungsweise ihrem Nichtvorhandensein.
Der Reiz dieses Spiels entsteht durch das flüssige Gameplay, nicht durch sein Narrativ. Die knapp zwanzig Hauptmissionen des Spiels, die eigentliche Storyline, sind derart flach und nichtssagend, dass ich die Hälfte der Zeit nicht einmal weiß, warum ich jetzt genau hier bin und was für einen Unterschied meine Anwesenheit macht (außer, dass nachher mehr Menschen tot statt lebendig sind). Es ist auch so uninteressant. Die Kulissen sind spektakulär, wenn man sich durch die verschiedenen Museen entlang der Washington Mall und die zahlreichen Monumente der Stadt kämpft. Aber die Maxime ist stets eine Variante von: Drücke diese Knöpfe, töte diesen Boss (und seine zweihundert Handlanger), und Amerika rückt magisch einen Schritt zurück Richtung universeller Ordnung.
Das wäre an sich auch gar nicht schlimm – schließlich spiele ich einen Loot Shooter und kein Rollenspiel. Wäre da nicht die Diskrepanz zwischen der Prämisse innerhalb des politischen und kulturellem Umfelds, in dem The Division 2 spielt, und seinem aggressiven Bemühen, dabei tunlichst zu vermeiden, auch nur einen winzigen politischen Kommentar abzugeben, wie selbst Creative Director Terry Spier kürzlich in einem Interview mit Polygon beteuerte. Ich bin Teil einer Spezialeinheit, die unbeschränkte Entscheidungsbefugnis hat und praktisch in einem zweiten Amerikanischen Bürkerkrieg auf der Seite der Regierung kämpft. Aber niemand thematisiert das.
Als ich den Präsidenten rette, die Ikone der amerikanischen Republik (und in diesem Fall der generischste Prototyp eines weißen, alten, mächtigen Mannes), kommentiert dieser das lediglich flapsig damit, dass er nicht hier sei, um Wählerstimmen zu gewinnen, sondern: „I’m here to get shit done.“ Zu sehr erinnert mich das an gewisse Aussagen lebender amerikanischer Politiker, als dass ich Herrn Spier seine politische Unschuld glauben kann.
Aber da bin ich scheinbar der Einzige. Und damit entgeht diesem Spiel in meinen Augen eine große Chance. Nicht, dass es deswegen weniger Spaß macht oder sich schlechter verkauft. Wohl eher das Gegenteil: Im derzeitigen politischen Klima wollen sich alle große Publisher (und Ubisoft ist einer der größten der Branche), möglichst weit von jeder Verfänglichkeit und den gefürchteten Shitstorms halten, die einen etwaigen Fehltritt begleiten und die Quartalszahlen bedrohen. Doch der so spannende Hintergrund dieses Spiels wird dadurch zur bloßen grafischen Kulisse degradiert, die sagt: „Bitte, schieß einfach und denk nicht weiter drüber nach!“
Noch einmal: Das, was The Division 2 macht, macht es wirklich gut. Im Bereich der Loot Shooter ist es aufgrund seiner lebendigen Welt und seinem perfekt ausbalancierten Gameplay sowie seinen für Solisten wie Teamplayer spannend und abwechslungsreich gestalteten Missionen so ziemlich das Beste, was es derzeit gibt.
Aber es ist auch nicht mehr als das. Und manchmal, nur manchmal, frage ich mich, ob manche Dinge denn heutzutage nicht auch mal eine Aussage machen dürfen.
The Division 2 ∙ Ubisoft ∙ Online Action RPG ∙ PC, PS4, XBox One
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