Dmitry Glukhovsky: Geschichten aus der Heimat
Eine Shortstory-Sammlung des Bestsellerautors
Am 24. Februar 2022 überfiel die russische Armee auf Befehl Wladimir Putins die Ukraine – der vorerst letzte Schritt in einem Konflikt, der 2014 mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim begonnen hatte.
Drei Tage später erschien in der russischen Tageszeitung Novaya Gazeta das Bild einer U-Bahn-Station in Kyjiw, in der Hunderte Menschen Schutz vor den Raketenangriffen suchen. Die Überschrift: „Metro 2022“, ein Verweis auf die Romanreihe des Bestsellerautors Dmitry Glukhovsky (im Shop). „Ich hätte nie gedacht, dass es diese Bilder in der Realität geben könnte. Ich habe eine Dystopie geschrieben, ich habe übertrieben, um zu appellieren, dass die Menschheit nie wieder in die Richtung eines Vernichtungskrieges gehen darf. Ich war schockiert, dass diese Bilder wahr geworden sind“, äußerte sich der Autor in einem Interview dazu.
Auch mit seiner Meinung zu Putin und dessen Regime hält Glukhovsky nicht hinter dem Berg: „Das gravierendste strukturelle Problem des russischen politischen Systems ist, dass es aus verbrecherischen Dumpfbacken besteht, die wie Mafia-Gauner leben, in kannibalischem Eifer in Konkurrenz zueinander stehen und dabei die Befehle eines entrückten, heuchlerischen Greises mit einer Persönlichkeitskrise ausführen“, schrieb er im Mai auf Twitter. Wegen seiner deutlichen Positionierung gegen Putin landete Glukhovsky am 7. Juni 2022 auf den russischen Fahndungslisten – mit seinen Äußerungen habe er dem Ansehen der russischen Armee geschadet, heißt es. Glukhovsky hat Russland bereits im März verlassen, eine Rückkehr in seine Heimat ist derzeit ausgeschlossen.
Vor diesem Hintergrund erscheinen die Kurzgeschichten, in denen sich Glukhovsky seit Jahren mit seinem Heimatland auseinandersetzt, mitunter prophetisch. Die Stories, erschienen als Online-Sammlung, in verschiedenen Magazinen wie dem Esquire und in Buchform, geben einen einzigartigen Einblick in die gegenwärtige russische Gesellschaft. Etwa zwanzig davon haben wir gemeinsam mit dem Autor für die Sammlung „Geschichten aus der Heimat“ ausgewählt, die im Oktober 2022 exklusiv bei Heyne erscheint (im Shop).
Der Inhalt:
Ein tadschikischer Gastarbeiter, der in die Fänge des Moskauer Organhandels gerät. Ein Antikorruptions-Ermittler, der von seinem Verfahren abgezogen wird. Ein Regierungsbeamter, der sich die Sinnfrage stellt. Ein Journalist vor dem Interview seines Lebens. Ein Provinzpolitiker, urplötzlich konfrontiert mit der bitteren Wahrheit unverfälschter Wahlergebnisse. Ein von seinen Kameraden gepeinigter Wachsoldat auf einem einsamen Raketenstützpunkt. Ein Funktionär, der das Geheimnis des „sozialen Lifts“ begreift …
Häufig sind es die Schicksale von ganz normalen Menschen, etwa Vertretern der mittleren Verwaltungsebene, die Dmitry Glukhovsky in seinen Erzählungen beschreibt. Gemeinsam ist so gut wie allen Protagonist*innen, dass das Schicksal sie meist unverhofft in den Sog, auf den Geschmack, in Reichweite der Macht geraten lässt – mit unerwarteten, meist unaufhaltsamen Folgen.
Das Fantastische scheint immer wieder in den Stories durch, etwa in der Geschichte „Telefonnoje prawo“ („Telefonrecht“), in der eine Art russischer »Blade Runner« auf einen dysfunktionalen Avatar angesetzt wird, der – wie sämtliche Richter*innen im modernen Russland – eigentlich immer nur regierungstreue Gerichtsurteile verkünden soll, sich aber auf einmal die „Freiheit“ nimmt, nach Recht und Gesetz zu entscheiden. Oder wie in „From Hell“, wo ein Team von Geolog*innen bei Tiefenbohrungen in Sibirien tatsächlich bis in die Hölle vorstößt und dabei unerwartete Verstrickungen von Gazprom und anderen Rohstoffunternehmen mit den Mächten des Bösen zutage treten. Eine dystopische Vorstellung, die einen angesichts der aktuellen Ereignisse frösteln lässt.
In manchen seiner Geschichten wechselt der Autor aber auch die Perspektive und lässt – ohne jemals Namen zu nennen, aber stets deutlich erkennbar – den Nationalen Führer, den Präsidenten und den Premier, den Ersten und den Zweiten auftreten. Auch hier werden satirisch die Mechanismen der Macht aus der Innenschau bloßgestellt, etwa in „Kormlenije tajskich somikow“ („Die Fütterung thailändischer Welse“), wo der technologieverliebte, reformbereite, frischgewählte Präsident mit dem Übereifer eines Musterschülers das Land umzukrempeln versucht und dabei vom Premierminister im Stil eines Elder Statesman immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt wird.
Es ist diese Kombination aus Realismus und Farce, die den Reiz dieser Stories ausmacht. Sie verschafft den Leser*innen Einblicke in die (verdorbenen, verrosteten und doch auf furchtbar Weise wirksamen) Tiefenstrukturen der russischen Gesellschaft, ohne dabei jemals an Unterhaltungswert zu verlieren. Glukhovskys narrativer Stil ist kraftvoll, dynamisch, niemals platt – die Fans seiner Science-Fiction-Romane werden diesen Sound mit großem Genuss wiedererkennen. Mit nur wenigen Sätzen weiß er präzise Stimmungen zu erzeugen, konstruiert geschickt spannungsreiche Expositionen und setzt genau zum richtigen Zeitpunkt den Punch für die überraschende Auflösung. In der Langform ist uns diese Fertigkeit bestens vertraut, doch hier erweist er sich nicht weniger als Meister der Kurzgeschichte, ja der Miniatur.
Dmitry Glukhovsky: Geschichten aus der Heimat • Kurzgeschichten • Aus dem Russischen von David Drevs, Christiane Pöhlmann und Franziska Zwerg • Wilhelm Heyne Verlag, München 2022 • ca. 460 Seiten • Hardcover • 24,– (im Shop)
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