„Was ist die Menschheit wert?“
Eine Leseprobe aus „Die Gnade der Götter“, dem neuen großen Roman von James Corey
Die Zukunft: Die Menschen sind in den Weltraum aufgebrochen und haben etliche ferne Planeten besiedelt. Da tauchen eines Tages wie aus dem Nichts außerirdische Raumschiffe auf und fallen mit brutaler Gewalt über die Menschheit her. Die wenigen Überlebenden werden auf die Heimatwelt der Aliens gebracht. Was sie dort entdecken, wird die Geschichte für immer verändern …
Science-Fiction, wie sie spannender und aufregender nicht sein kann – mit Die Gnade der Götter (im Shop) beginnt James Corey, Autor der weltweit erfolgreichen EXPANSE-Reihe, ein neues atemberaubendes Zukunftsepos.
Vorher
Du fragst, wie lange die Carryx schon in dem ewigen Krieg kämpfen? Diese Frage ist sinnlos. Seit vielen Epochen beherrschen die Carryx die Sterne. Wir haben die Ejia und Kurkst besiegt und die Augenlosen bezwungen. Wir haben die Logothetes niedergebrannt, bis ihre Welten nur noch vom Wind umtostes Glas waren. Vielleicht willst du etwas über unsere erste Begegnung mit dem Feind erfahren, aber es scheint mir doch eher so, als habe es viele erste Begegnungen gegeben, so weit gestreut in Zeit und Raum, dass man sie nicht gleichzeitig darstellen kann. Aber das Ende. Ich sah den Beginn der Katastrophe. Es war die Unterwerfung einer unbedeutenden Welt, die sich Anjiin nannte.
Man kann sich kaum vorstellen, wie ohnmächtig und schwach diese Welt war. Wir brachten Feuer, Tod und Ketten nach Anjiin. Wir nahmen uns, was wir für nützlich hielten, und erschlugen alle, die Widerstand leisteten. Das war unser Verhängnis. Hätten wir sie in Ruhe gelassen, dann wäre es nicht zu dem gekommen, was sich danach ereignete. Hätten wir die Welt zu Asche verbrannt und wären weitergezogen, wie wir es bei so vielen anderen Welten getan hatten, dann müsste ich jetzt nicht die Geschichte unseres Scheiterns erzählen.
Wir erkannten den Gegner nicht als das, was er war, und holten ihn in unser Heim.
Aus der letzten Aufzeichnung von Ekur-Tkalal, dem Hüter-Bibliothekar der menschlichen Minderheit der Carryx
1
Später, als das Ende kam, staunte Dafyd darüber, wie viele kritische Entscheidungen seines Lebens ihm in dem betreffenden Augenblick unbedeutend erschienen waren. Wie viele furchtbare Probleme sich im Rückblick als trivial erwiesen hatten. Und wenn er einmal den Ernst irgendeiner Situation erfasst hatte, führte er sie oft auf die falschen Ursachen zurück. Bei jenem letzten Anlass fürchtete er sich davor, an der Jahresendfeier im Wissenschaftlerclub teilzunehmen. Wie sich zeigen sollte, waren seine Ängste durchaus berechtigt, auch wenn sie nichts mit den Dingen zu tun hatten, auf die es wirklich ankam.
»Ja, schon klar, ihr Biologen sucht immer nach einem Ausgangspunkt, ihr stellt die Frage nach dem Ursprung«, behauptete der schlaksige große Mann, der vor Dafyd stand. Er richtete seinen Spieß mit Schweinebraten und Apfelstücken auf Dafyd und verlor angetrunken, wie er war, anscheinend einen Moment lang den Faden. »Aber wenn ihr die Ursprünge sehen wollt, dann müsst ihr euch von euren Mikroskopen lösen. Ihr müsst den Blick heben.«
»Das ist wahr«, stimmte Dafyd zu. Er hatte keine Ahnung, worauf der Mann hinauswollte, und fühlte sich trotzdem, als werde er gerade abgekanzelt.
»Fernfeldsensoren. Wir können ein Teleskop einsetzen, dessen Linse so groß ist wie ein Planet. Ja, wirklich, so groß wie ein Planet. Sogar noch größer. Nicht, dass ich das immer noch tun würde. Jetzt mache ich Nahfeld.«
Dafyd gab ein höfliches Brummen von sich. Der große Mann zupfte ein Stück Schweinefleisch vom Spieß. Beinahe sah es so aus, als würde er es gleich in den Hof fallen lassen. Dafyd malte sich aus, wie es im Innenhof im Glas eines Gastes landete.
Der große Mann bekam sein Essen in den Griff und schob es sich in den Mund. Sein Adamsapfel hüpfte heftig, als er den Bissen hinunterschluckte.
»Ich untersuche eine faszinierende anomale Zone direkt am Rand der Heliosphäre, die kaum eine Lichtsekunde groß ist. Haben Sie überhaupt eine Vorstellung, wie klein das für die konventionelle Telemetrie ist?«
»Keine Ahnung«, gab Dafyd zu. »Ist eine Lichtsekunde nicht eine ziemlich große Strecke?«
Der Mann sackte in sich zusammen. »Verglichen mit der Heliosphäre ist das ein sehr, sehr kleiner Bereich.« Er aß seine Portion auf, kaute enttäuscht und legte den Spieß auf das Geländer. Schließlich reinigte er sich mit einer Serviette und gab Dafyd die Hand. »Llaren Morse. Nahfeldastronomie an der Dyan-Akademie. Freut mich, Sie kennenzulernen.«
Wenn er einschlug, musste er die schmierigen Finger des Mannes berühren. Noch schlimmer, es bedeutete, dass er sich auf eine Unterhaltung einließ. Wenn er andererseits so tat, als hätte er jemanden bemerkt, und sich entschuldigte, musste er sich einen neuen Zeitvertreib suchen. Eine unbedeutende Entscheidung. Völlig trivial.
»Dafyd«, sagte er und schlug ein. Als Llaren Morse einladend nickte, nannte er seinen vollen Namen: »Dafyd Alkhor.«
Sofort veränderte sich Llaren Morses Haltung. Zwischen den Augenbrauen erschien eine kleine Falte, und sein Lächeln wirkte ein wenig unsicher. »Ich habe das Gefühl, ich müsste den Namen kennen. Welche Projekte haben Sie geleitet?«
»Keines. Vermutlich denken Sie an meine Tante. Sie sitzt im Vergabeausschuss.«
Llaren Morses Miene wurde blitzschnell neutral und förmlich, als hätte der Mann einen Schalter umgelegt. Dafyd glaubte beinahe, das Klicken zu hören. »Oh, richtig, das erklärt es vermutlich.«
»Wir haben nicht mit den gleichen Projekten zu tun«, fügte Dafyd etwas zu hastig hinzu. »Ich sitze hier nur meine Zeit als Forschungsassistent ab. Ich tue, was man mir sagt, und halte mich bedeckt.«
Llaren Morse nickte und grunzte leise und unverbindlich. Dann zögerte er unschlüssig, als wollte er sich am liebsten sofort verdrücken, überlegte zugleich aber auch, ob er einen Vorteil daraus schlagen könnte, dass vor ihm der Neffe einer Frau stand, die über die Mittelvergabe entscheiden konnte. Dafyd hoffte, die nächste Frage zielte nicht auf das Projekt, an dem er gerade arbeitete.
»Woher kommen Sie eigentlich?«, wollte Llaren Morse wissen.
»Ich bin von hier, aus Irvian«, erklärte Dafyd. »Ich bin zu Fuß von meiner Wohnung herübergekommen. Eigentlich bin ich gar nicht hier, um …« Er mache eine ausholende Geste in die Richtung der Besucher, die unter ihnen, auf den Galerien und in den Fluren umherwandelten.
»Nein?«
»Es gibt da eine Frau, der ich hoffentlich hier begegnen werde.«
»Ist sie denn überhaupt hier?«
»Das nehme ich stark an«, antwortete Dafyd. »Ihr Freund ist auf jeden Fall da.« Er lächelte, als sei es ein Scherz. Llaren Morse zuckte leicht zusammen, dann lachte er. Es war ein Trick, den Dafyd gut beherrschte: Die Wahrheit entschärfen, indem man sie humorvoll verkündete. »Und Sie? Wartet zu Hause jemand auf Sie?«
»Meine Verlobte«, antwortete der große Mann.
»Ihre Verlobte?«, wiederholte Dafyd und gab sich Mühe, damit es amüsiert und neugierig klang. Sie waren jetzt fast so weit, dass Dafyd nichts mehr über sich selbst preisgeben musste.
»Seit drei Jahren«, antwortete Llaren Morse. »Wir wollen heiraten, sobald ich eine dauerhafte Anstellung bekomme.«
»Einen festen Posten?«
»Genau. Der Job an der Dyan-Akademie ist auf zwei Jahre befristet, und es gibt keine Zusagen, dass die Finanzierung verlängert wird. Ich warte auf einen Vertrag über mindestens fünf Jahre, ehe wir irgendwo wirklich Wurzeln schlagen.«
Dafyd schob die Hände in die Jackentaschen und lehnte sich an das Geländer. »Das klingt, als sei Ihnen Stabilität wirklich wichtig.«
»O ja, unbedingt. Ich will mich doch nicht auf eine Anstellung einlassen, und dann geht der Posten eines Tages an jemand anders, verstehen Sie? Wir geben uns viel Mühe mit unserer Arbeit, und sobald man Resultate erzielt, wird man von einem größeren Fisch geschluckt.«
Damit war das erledigt. Die nächste halbe Stunde verbrachte Dafyd damit, alles zu wiederholen, was Llaren Morse sagte, entweder mit dessen eigenen Worten oder mit sehr ähnlichen Begriffen, oder er umschrieb, was der Mann seiner Ansicht nach sagen wollte, und spielte es ihm zurück. Das Gesprächsthema wechselte von akademischen Intrigen an der Dyan-Akademie zu Llaren Morses Eltern, die ihn ermutigt hatten, in die Forschung zu gehen, und weiter zur Scheidung der Eltern, die ihn und seine Schwestern sehr getroffen hatte.
Dem Mann entging völlig, dass Dafyd absolut nichts über sich selbst preisgab.
Dafyd hörte zu, weil er ein guter Zuhörer war. Darin hatte er viel Übung, und so stand er nicht im Rampenlicht. Die meisten Menschen erzählten ohnehin gern etwas über sich selbst, und am Ende schlossen sie ihn ins Herz. Das war ihm ganz recht, selbst wenn er die Zuneigung nicht immer erwidern konnte.
Als Morse ihm erzählt hatte, wie seine ältere Schwester Liebesbeziehungen mit genau den Menschen gemieden hatte, die sie eigentlich am meisten mochte, entstand unten im Hof eine gewisse Unruhe. Man hörte Applaus und Gelächter, und die Aufmerksamkeit der Gäste richtete sich auf Tonner Freis.
Vor einem Jahr war Tonner ein vielversprechender Projektleiter in der Forschung gewesen. Jung, brillant, fordernd und mit einer vorzüglichen Intuition für die Strukturen, die sich in lebendigen Systemen herausbilden. Das Wohlwollen der Institutionen war ihm sicher. Als Dafyds Tante ihn beiläufig auf Tonner Freis aufmerksam gemacht und erwähnt hatte, dass der junge Wissenschaftler ein großes Potenzial besäße, hatte sie damit gemeint, dass Freis in zehn Jahren, wenn er sich bewährt und sich bis zur Spitze vorgearbeitet hatte, in einer guten Position wäre, um jüngere Forscher aus seinem Team bei deren Karriere zu unterstützen. Also ein Mann, an den Dafyd sich halten konnte.
Sie hatte nicht wissen können, dass Tonners Projekt zur Proteomkonsolidierung an erster Stelle im Bericht des Medrey-Rates erwähnt werden würde oder dass der Forschungsausschuss dem Projekt seine besondere Unterstützung zuteilwerden ließ und dass dieses Vorhaben im Parlament und von der Bastiangesellschaft als vorrangig bewertet werden würde. Es war das erste befristete Projekt, das in ein und demselben Jahr auf allen drei Listen an der ersten Stelle stand. Tonner Freis – mit dem angespannten Lächeln und den vor der Zeit ergrauten Haaren, die wie eine Rauchwolke über der heißen Stirn wallten – war im Augenblick der berühmteste Forscher auf der ganzen Welt.
Von seinem Standort und aus diesem Winkel konnte Dafyd Tonners Gesicht nicht richtig sehen. Auch die Frau im smaragdgrünen Kleid an seiner Seite konnte er kaum erkennen. Es war Else Annalise Yannin, die ihr eigenes Forschungsteam aufgegeben hatte, um sich Tonners Projekt anzuschließen. Wenn sie lächelte, hatte sie ein Grübchen auf der linken Wange, und auf der rechten Seite waren es sogar zwei. Wenn sie nachdachte, tappte sie mit den Füßen komplizierte Rhythmen auf den Boden, als müsste sie mit dem Körper an Ort und Stelle tanzen, während ihre Gedanken umherschweiften.
Else Yannin, die stellvertretende Projektleiterin und bekanntermaßen Tonner Freisʼ Geliebte. Else, die Dafyd zu sehen gehofft hatte, obwohl er wusste, dass es ein Fehler war.
»O ja, genieße es nur, solange du es noch darfst«, sagte Llaren Morse, während er zu Tonner hinunterstarrte, der sich im Applaus sonnte. Dafyds Nackenhaare sträubten sich, doch Morse hatte nicht mit ihm gesprochen. Der Kommentar hatte Tonner gegolten, und er hatte höhnisch geklungen.
»Er soll es genießen, solange er es noch darf?« Die Miene des großen Mannes hatte sich verändert, der Trick würde nicht noch einmal funktionieren. Llaren Morse war jetzt vorsichtiger und erheblich zurückhaltender als zu Beginn ihres Gesprächs.
»Sie wollen sicher gehen, ich will Sie nicht den ganzen Abend aufhalten«, sagte der große Mann. »Es war schön, Sie kennenzulernen, Alkhor.«
»Ebenso.« Dafyd sah dem Mann hinterher, der sich auf der Galerie entfernte. Der leere Spieß lag vergessen auf dem Geländer. Inzwischen war es dunkel, nur noch die Sterne strahlten am Himmel. Eine Frau, die ein wenig älter als Dafyd war, schwebte vorbei, räumte den Spieß ab und verschwand in der Menge.
Dafyd redete sich ein, seine Paranoia sei unbegründet.
Er war müde, weil das Jahr zu Ende ging. Sein ganzes Team hatte Überstunden gemacht, um die Datensätze fertigzustellen. An diesem Ort, wo sich intellektuelle Größen und politische Anführer trafen, fühlte er sich fehl am Platze. Außerdem bedrückte ihn die unangemessene Vernarrtheit in eine unerreichbare Frau. Er war verlegen, da er bei Llaren Morse den nicht ganz unbegründeten Eindruck hinterlassen hatte, er sei nur hier, weil ein Mitglied seiner Familie über Finanzierungen zu entscheiden hatte.
Jeder einzelne Punkt war für sich genommen schon genug, um an diesem Abend seinen eigenen Gefühlen mit einer gewissen Skepsis zu begegnen. Alle zusammen waren ein unbestreitbares Argument.
Auf der anderen Waagschale lag die leichte Verachtung, die aus Morses Bemerkung gesprochen hatte: O ja, genieße es nur, solange du es noch darfst.
Dafyd fluchte leise, setzte eine finstere Miene auf und ging zu der Rampe, die zu den oberen Stockwerken des Clubs führte, wo die Manager und Politiker Hof hielten.
Der Club war aus einer Baumkoralle gezogen worden und erhob sich fünf Stockwerke hoch über der offenen Grasnarbe im Osten und der Plaza im Westen. Er war von Natur aus in geschwungenen Linien gewachsen, es gab keine rechten Winkel. Gekrümmte Träger stützten und spannten das Gebäude von den Wänden über die Fenster bis zu den Zierspitzen und erweckten den Eindruck von Bewegung und Lebendigkeit, als umrankten Kletterpflanzen ein Gerüst aus natürlichen Knochen.
Die weitläufigen Korridore im Inneren leiteten die frische Luft durch das Gebäude. Es gab offene Innenhöfe und private Räume, in denen man im kleinen Rahmen Sitzungen abhalten konnte, während die größeren Säle für Tanzveranstaltungen oder Bankette dienten. Es roch nach Zedern und Akkehbäumen. An den höchsten Stellen nisteten Harfenschwalben, die für die Besucher unten ihre Lieder zirpten.
Fast das ganze Jahr über war der Club einfach nur ein Mehrzweckgebäude für die Irvian Research Medrey, das allen wissenschaftlichen Zweigen der über die ganze Stadt verteilten Einrichtung zur Verfügung stand. Abgesehen von einer demütigenden Fehleinschätzung am Anfang des Jahres verband Dafyd mit dem Club und den Anlässen, zu denen er ihn aufgesucht hatte, nur angenehme Erinnerungen. Die Jahresendfeier war allerdings etwas ganz anderes. Dies war eine ganze Serie ineinander verschachtelter Lügen. Ein Minenfeld voller Goldklumpen, wo Gelegenheit und Katastrophe untrennbar miteinander verknüpft waren.
Zunächst einmal war es eine Gelegenheit für die bedeutendsten Wissenschaftler und Forscher aus den großartigen Medreys und Konservatorien auf Anjiin, einander zwanglos zu begegnen und sich kennenzulernen. »Zwanglos« bedeutete freilich, dass man sich an eine komplizierte und nicht offen formulierte Etikette halten und die streng, aber leider unzulänglich definierten Statusunterschiede strikt beachten musste. Eine unumstößliche Benimmregel besagte beispielsweise, dass man so tun musste, als gäbe es keine derartigen Regeln. Wer mit wem sprach, wer einen Scherz machen konnte und wer daraufhin zu lachen hatte, wer flirten durfte und wer sich unerreichbar zeigen musste, all das war aufgrund unausgesprochener Gesetze festgelegt, und jeder Fehler wurde von der Gemeinschaft sofort wahrgenommen.
Zweitens war dies ein Moment, um jegliche politische Rücksichtnahme zu vergessen und offen um die Mittel zu buhlen, die im nächsten Semester zu vergeben waren. So war jede Unterhaltung und Bemerkung mit Hinweisen und Andeutungen garniert, welche Studien sich hervorgetan hatten, welche Fäden des akademischen Gewebes im nächsten Jahr weitergesponnen werden durften und welche abgeschnitten werden würden, wer die Forschungsteams leiten würde und welcher brillante Geist die Mitarbeiter zu neuen Höhenflügen anspornen würde.
Im Übrigen stand die Feier allen Angehörigen der wissenschaftlichen Gemeinde offen. Theoretisch war sogar der unerfahrenste unter den Forschungsassistenten willkommen. Praktisch gesehen war Dafyd nicht nur einer der Jüngsten, sondern auch der einzige Assistent, der als Gast erschienen war. Die anderen vom gleichen Rang ergatterten sich an diesem Abend etwas zusätzliches Taschengeld, indem sie ihren Oberen Getränke und Tapas servierten.
Manche Gäste waren in Schlips und Kragen und mit Westen in den Farben ihrer Heimat-Medreys oder ihrer Forschungseinrichtungen gekommen. Andere trugen ungefärbte sommerliche Leinenkleidung, welche der neu ernannte Direktor in Mode gebracht hatte. Dafyd hatte sich für förmliche Kleidung entschieden: ein langes nachtschwarzes Jackett über einem bestickten Hemd und eng anliegender Hose. Gute Garderobe, aber ganz bewusst nicht übertrieben kostspielig.
In den Bereichen, die den oberen Rängen vorbehalten waren, lungerten Wachleute herum. Mit dem lässigen Selbstvertrauen eines Menschen, dem selbstverständlich der Zugang zu den höheren Sphären offenstand, schlenderte Dafyd an ihnen vorbei. Es wäre kein Problem gewesen, im lokalen System den Aufenthaltsort von Dorinda Alkhor abzufragen, aber möglicherweise sah seine Tante die Anfrage und erfuhr dadurch, dass er sie suchte. Wenn sie derart vorgewarnt wurde … nein, es war besser, wenn sie es nicht mitbekam.
Das Durchschnittsalter der Menschen in der Nähe verschob sich fast unmerklich nach oben, als die Mischung von Forschern zu Forschungskoordinatoren wechselte, von beitragenden Wissenschaftlern zu höheren Verwaltungsleuten, von Protokollanten und populärwissenschaftlichen Autoren zu Politikern und Verbindungsoffizieren des Militärs. Die feinen Jacketts waren eine Spur besser geschnitten, die bestickten Hemden hatten etwas buntere Farben. Das Gefieder, das den Status des Besitzers verkündete. Wie eine Mikrobe, die zum Zucker strebte, schob er sich durch die konzentrierte Macht, die Hände in die Taschen gesteckt und ein höfliches, nichtssagendes Lächeln auf den Lippen. Nervosität hätte man ihm sofort angesehen, also tat er beschäftigt. Er ging langsam und bestaunte die Kunstwerke und Figuren in den weiten Nischen der Baumkoralle, nahm von den Bedienungen Getränke entgegen und gab sie bei anderen Helfern kurze Zeit später wieder ab. Schließlich vergewisserte er sich vor dem Eintreten, dass der nächste Raum genau das war, was er suchte.
Seine Tante stand auf einem Balkon, der die Plaza überblickte. Er bemerkte sie, ehe sie ihn sah. Sie trug die Haare offen, als wollte sie ihre Gesichtszüge weicher erscheinen lassen, doch der strenge Mund und das Kinn waren unverwechselbar. Den Mann, mit dem sie sich unterhielt, kannte Dafyd nicht. Er war älter und hatte einen gepflegten weißen Bart, er sprach hastig und machte kleine, lebhafte Gesten, während sie aufmerksam zuhörte.
Dafyd schlug einen Bogen und näherte sich dem Durchgang, der zum Balkon führte, ehe er schneller wurde und direkt auf sie zusteuerte. Sie merkte auf und sah ihn. Ein blitzschnelles Stirnrunzeln, dann lächelte sie und winkte ihn zu sich.
»Mur, das ist mein Neffe Dafyd«, sagte sie. »Er arbeitet für Tonner Freis.«
»Der junge Freis!«, sagte der gepflegte Bart und schüttelte Dafyd die Hand. »Da sind Sie in einem guten Team. Erstklassige Arbeit.«
»Ich bereite eigentlich nur Proben vor und halte das Labor sauber«, wandte Dafyd ein.
»Trotzdem, das geht in Ihre Akte ein. Später wird es Ihnen Türen öffnen, glauben Sie mir.«
»Mur ist im Forschungsausschuss«, erklärte seine Tante.
»Oh.« Dafyd grinste. »Tja, dann bin ich wirklich sehr erfreut, Sie kennenzulernen. Ich bin ja hergekommen, um Menschen zu treffen, die meiner Karriere förderlich sind. Da wir uns jetzt gesehen haben, kann ich wieder nach Hause gehen.«
Seine Tante gab sich Mühe, ihre empörte Grimasse zu verbergen, doch Mur lachte und klopfte Dafyd auf die Schulter. »Dory hat mir nur Gutes über Sie erzählt. Sie werden schon Ihren Weg gehen. Aber jetzt muss ich …« Er zeigte nach hinten und nickte vielsagend der Tante zu. Sie nickte zurück, woraufhin sich der ältere Mann zurückzog. Unter ihnen auf der Plaza ging es turbulent zu: Wägelchen mit Essen und eine Band, die Gitarrenmusik spielte. Die Klänge wehten leise bis zu ihnen herauf, die Melodien schwebten in der klaren, duftenden Luft. Sie hakte sich bei ihm ein.
»Dory?«, fragte Dafyd.
»Ich mag es nicht, wenn du dir selbst schadest«, erwiderte sie, seine kleine spöttische Spitze ignorierend. Dafyd entging nicht, wie angespannt ihr Nacken und die Schultermuskulatur waren. Auf dieser Feier buhlten alle um ihre Aufmerksamkeit oder vielmehr um den Zugang zu den Geldmitteln, über die sie verfügte. Sie war den ganzen Abend über in Abwehrstellung gewesen, und allmählich riss ihr der Geduldsfaden. »Das ist nicht ganz so reizend, wie du es dir vorstellst.«
»Ich wirke beruhigend auf andere Menschen«, behauptete Dafyd.
»Du stehst mit deiner Karriere an einem Punkt, wo du die Leute eher beunruhigen solltest. Du bist viel zu scharf darauf, unterschätzt zu werden. Das ist eine schlechte Angewohnheit. Irgendwann musst du mal jemanden wirklich beeindrucken.«
»Ich wollte mich jedenfalls bemerkbar machen, damit du auch weißt, dass ich hier bin.«
»Es freut mich, dass du gekommen bist.« Ihr Lächeln war beinahe nachsichtig.
»Du warst eine gute Lehrerin.«
»Ich habe meiner Schwester versprochen, auf dich aufzupassen, und ich schwöre bei ihrer verschiedenen Seele, dass ich aus dir etwas machen werde, das ihrer würdig ist.« Als die ältere Frau seine Mutter erwähnte, zuckte Dafyd zusammen. Seine Tante lenkte ein wenig ein. »Sie hat mich immer gewarnt, dass man Geduld braucht, wenn man Kinder erziehen will. Genau deshalb hatte ich keine eigenen.«
»Ich lerne nicht sehr schnell, und das ist allein mein Problem. Du warst immer eine gute Lehrerin. Alles in allem werde ich dir eines Tages viel zu verdanken haben.«
»Nein.«
»O doch, da bin ich ziemlich sicher.«
»Ich meinte, nein, was immer du mir jetzt abluchsen möchtest, frage lieber gar nicht erst. Ich konnte oft genug beobachten, wie du alle anderen mit deinen Schmeicheleien und deinem Charme umgarnt hast. Ich denke nicht schlecht über dich, weil du manipulativ bist. Das ist eine wichtige Fähigkeit. Aber ich beherrsche sie besser als du. Also, was auch immer du mir aus dem Kreuz leiern willst, die Antwort lautet nein.«
»Ich habe jemanden von der Dyan-Akademie kennengelernt. Ich glaube, er mag Tonner nicht.«
Auf einmal sah sie ihn mit kalten Haifischaugen an. Dann spielte ein winziges, humorloses Lächeln um ihre Lippen wie immer, wenn sie mit einem schlechten Blatt verloren hatte.
»Sei nicht so selbstgefällig. Ich freue mich wirklich, dass du gekommen bist.« Sie drückte seinen Arm, und damit war er entlassen.
Dafyd kehrte auf dem gleichen Weg zurück und wanderte durch die Flure und über die weiten Rampen. Für die Leute, denen er begegnete, setzte er ein nichtssagendes Lächeln auf, während seine Gedanken um ganz andere Dinge kreisten.
Er entdeckte Tonner Freis und Else Yannin im Erdgeschoss in einem Raum, der groß genug war, um als Ballsaal zu dienen. Tonner hatte die Jacke abgelegt und die Hände auf einen breiten hölzernen Tisch gestützt. Ein halbes Dutzend Wissenschaftler umringten ihn im Halbkreis, als stünde Tonner Freis allein auf einer Theaterbühne. Unser Fehler war, die Konsolidierungsstrategien auf der informatorischen Ebene abzuhandeln, statt uns um das Endergebnis zu kümmern. DNA und Ribosomen auf der einen Seite, Gitter bildende Quasikristalle und QRP auf der anderen. Es ist, als sprächen wir zwei verschiedene Sprachen und wollten die Grammatiken zwingen, sich einander anzupassen, obwohl wir eigentlich nur eine Anleitung brauchen, um einen Stuhl zu bauen. Hört auf, das Wie zu erklären, und baut einfach den Stuhl, dann wird es viel einfacher. Seine Stimme trug besser als die eines Sängers. Das Publikum kicherte.
Dafyd sah sich um und entdeckte sie sofort. Else Yannin saß in ihrem smaragdgrünen Kleid zwei Tische weiter. Edle Adlernase, breiter Mund, schmale Lippen. Mit einer Art amüsierter Nachsicht beobachtete sie ihren Geliebten. Eine Sekunde lang hasste Dafyd Tonner Freis.
Er musste es nicht tun, niemand hatte ihn darum gebeten. Es wäre kein Problem gewesen, einfach nach rechts abzubiegen und auf die Plaza zu schlendern. Ein Teller mit gegrilltem Mais und scharfem Rindfleisch und ein Glas Bier, danach konnte er in seine Wohnung zurückkehren und die politischen Intrigen hinter sich lassen. Dann strich Else sich eine Locke ihrer brünetten Haare hinter das Ohr, und er ging zu ihrem Tisch, als hätte er dort etwas Wichtiges zu tun.
Kleine Momente, zur jeweiligen Zeit unbemerkt, formen das Schicksal großer Reiche.
Ihr Lächeln veränderte sich, als sie ihn bemerkte. Genauso echt, aber mit einer anderen Bedeutung. Ein wenig verhaltener. »Dafyd? Ich hatte nicht damit gerechnet, dich hier zu sehen.«
»Meine anderen Pläne sind geplatzt.« Als ein Diener vorbeikam, streckte er den Arm zu einem Tablett mit etwas aus, das nach eisgekühltem Pfefferminztee aussah. Er hatte auf etwas Stärkeres gehofft. »Ich war neugierig, wie die besten Geister des Planeten aussehen, wenn sie sich hemmungslos vergnügen.«
Else zeigte mit ihrem Glas in die Richtung der Menschenmenge. »So sehen sie aus, und so bleibt es bis in die frühen Morgenstunden.«
»Kein Tanz?«
»Vielleicht, wenn sie noch etwas Zeit haben, sich ein wenig zu betrinken.« Sie hatte einige vorzeitige weiße Strähnen im Haar. Trotz ihres jugendlichen Gesichts wirkte sie damit alterslos.
»Darf ich dich etwas fragen?«
Sie konzentrierte sich wieder auf ihn. »Natürlich.«
»Hast du etwas davon gehört, dass eine andere Gruppe unsere Forschung übernehmen soll?«
Sie lachte kurz auf, es war so laut, dass Tonner kurz herüberblickte und Dafyd zunickte, ehe er seinen Auftritt fortsetzte. »Darüber musst du dir keine Sorgen machen«, beruhigte sie ihn. »Im letzten Jahr haben wir so gute Fortschritte gemacht und so viel Lob eingeheimst, dass in dieser Hinsicht keine Gefahr droht. Wer so etwas versucht, würde sofort als enttäuschende Zweitbesetzung gelten. Das will niemand riskieren.«
»Na schön.« Dafyd trank einen Schluck von dem Tee, den er nicht mochte. Ein Zuhörer in Tonners kleinem Publikum sagte etwas, das Tonner mit einer finsteren Miene quittierte. Else rutschte auf dem Stuhl hin und her, zwischen den Augenbrauen zeichnete sich eine kleine Falte ab.
»Aber neugierig bin ich schon – warum fragst du?«
»Ich wollte mich einfach nur vergewissern, dass es hundertprozentig sicher und ein Irrtum ausgeschlossen ist. Irgendjemand tut wohl so, als könne er die Forschung übernehmen.«
Else stellte ihr Getränk ab und legte ihm eine Hand auf den Unterarm. Die Falte zwischen den Augenbrauen vertiefte sich. »Was hast du gehört?«
Dafyd wurde warm, als sie die Aufmerksamkeit auf ihn richtete und ihn sogar berührte. Es fühlte sich an wie ein wichtiger Augenblick, und das war es wohl auch. Später, als er im Zentrum eines Sturms stand, der tausend Welten verbrennen sollte, würde er sich erinnern, wie alles damit begonnen hatte, dass Else Yannin ihm die Hand auf den Arm gelegt hatte und er ihr einen Grund bieten wollte, sie dort zu lassen.
2
Die Menschen, das wusste jeder, hatten auf Anjiin nichts zu suchen.
Wie sie auf den Planeten gelangt waren und warum sie dorthin gekommen waren, all das war im Nebel von Zeit und Geschichte verborgen. Eine Sekte der Gallantisten behauptete, sie seien auf einem riesigen Schiff gereist, das an Pishtahs berühmte Arche erinnerte, nur dass es zwischen den Sternen geflogen war. Serintische Theologen behaupteten, Gott hätte einen Riss geöffnet, durch den die Gläubigen dem Tod eines älteren Universums entgehen konnten, wo eine schreckliche Sünde – die Ansichten über die genaue Natur dieser Sünde gingen auseinander – die Gottheit überzeugt hatte, dass ein Völkermord das geringere Übel sei. Oder, wenn man dafür offen war, die Angelegenheit durch eine poetische Brille zu betrachten, dann hatte sie ein großer Vogel von Erribi hergebracht. Erribi war jener Sonne am nächsten und vermutlich ihr Heimatplanet gewesen, bis die Sonne zornig geworden war und ihre Äcker in Wüsten verwandelt und den Himmel zerkocht hatte.
Die Wissenschaften hatten ebenfalls eine Geschichte zu erzählen, wenngleich die lückenhafte Erinnerung der Menschheit die Einzelheiten verschwimmen ließ.
Das Leben auf Anjiin hatte Milliarden Jahre vorher als System aperiodischer Quasikristalle aus Silizium, Kohlenstoff und Jod begonnen. Diese Form des Lebens benutzte Quasikristalle, um Anweisungen an die nächste Generation zu übermitteln, wobei es gelegentlich zu Mutationen kam, die es manchen Organismen ermöglichten, ein wenig besser zurechtzukommen. Im Laufe vieler Äonen hatte sich in den Meeren Anjiins und auf den vier riesigen Kontinenten ein komplexes Ökosystem entwickelt.
Vor dreieinhalbtausend Jahren waren dann auf einmal wie aus dem Nichts in den Fossilien die Spuren von Menschen aufgetaucht. Man fand unglaublich dichte spiralförmige Geflechte von lose verbundenen Nukleinbasen, die wie Perlen an einer Halskette aus Phosphaten hingen. Und es waren nicht nur Menschen. Hunde, Kühe, Salat, Wildblumen, Grillen und Bienen. Viren. Pilze. Eichhörnchen. Schnecken. Ein ganzes Biom, das in der genetischen Geschichte des Planeten keinerlei Vorläufer hatte, entstand schlagartig auf einer Insel im Osten des Golfs von Daish. Kaum ein Jahrhundert nach dem ersten Auftauchen hatte irgendetwas, niemand konnte Genaues darüber sagen, den größten Teil der Insel zu Glas und schwarzem Stein verbrannt. Zusammen mit den ersten Siedlern gingen auch alle ihre Aufzeichnungen unter. Nur wenige Überbleibsel dieses neuen Bioms überlebten am Rand der Insel und an der Küste des benachbarten Kontinents. Von dort aus breiteten sie sich wie ein Lauffeuer auf der ganzen Welt aus.
Diese beiden Stammbäume des Lebens, die sich ganz Anjiin teilten, ignorierten einander gewöhnlich, wenn man davon absah, dass sie hinsichtlich des Sonnenlichts und gewisser Mineralien im Wettstreit lagen. Gelegentlich entwickelte eine Seite einen Weg, um die andere biochemische Tradition parasitär zu behelligen und auf diesem Weg komplexe Proteine, Wasser und Salz zu gewinnen. Allgemein galt es jedoch als erwiesen, dass die beiden Biome nicht auf irgendeine sinnvolle Weise miteinander konsolidiert werden konnten. Auf der mikroskopischen Ebene unterschieden sich die Eichen und Erlen, die entfernten Verwandten der Menschheit, viel zu sehr von den einheimischen Akkae und Brulam, auch wenn sie von Weitem betrachtet gewisse Ähnlichkeiten aufwiesen. Die Evolution hatte zu ähnlichen Formen, Farben und Gestalten und vergleichbaren Lösungen geführt, aber im Grunde konnten sich die unterschiedlichen Lebensformen auf Anjiin nicht voneinander ernähren.
Bis Tonner Freis einen Weg gefunden hatte, die Unterschiede zu überbrücken. Das hatte alles verändert.
»Ich will gleichzeitig noch ein Bier trinken und weniger Bier in mir haben, als ich schon getrunken habe«, verkündete Jessyn.
Irinna, die neben ihr saß, grinste nur. Vor ihnen am Rand der Plaza erhob sich der Akademikerclub. Die pulsierenden Lichter der Strahler, die auf den Mauern des Gebäudes spielten, erweckten den Eindruck, als wiegte sich die Baumkoralle in einer mächtigen Strömung. Dahinter spannte sich der dunkle Himmel mit den hellen Sternen.
Tonner und Else waren im Club, denn sie bildeten den Kern des gefeierten Teams. Campar, Dafyd und Rickar waren … irgendwo unterwegs. An ihrem kleinen Tisch waren sie nur zu viert. Ein unbefangener Passant hätte sie für eine Familie halten können. Nöl war der Vater mit dem runzligen Gesicht, der viel Leid ertragen hatte, Synnia war seine grauhaarige Frau, Jessyn die ältere und Irinna die jüngere Tochter. Das traf keineswegs zu, auch wenn sie sich manchmal wie eine Familie fühlten.
»Dann hast du jetzt genug?«, meinte Nöl. »Keine Lust, es zu übertreiben?«
Irinna klatschte die Hand auf den Tisch. »Wir sollten es alle ordentlich übertreiben. Wenn nicht jetzt, wann dann?«
Nöl zuckte betroffen zusammen und räusperte sich. Synnia fasste ihn am Arm. »Liebster, sie sind jung. Sie erholen sich viel schneller als wir.«
»Da hast du wohl recht«, antwortete der alte Gelehrte.
Jessyn erinnerte sich noch gut an das erste Treffen mit dem Team. Tonner Freis und natürlich Else Yannin, die gerade ihr eigenes Projekt aufgegeben hatte, um sich ihm anzuschließen. Damals hatte sie Nöl beeindruckt, dieses runzlige Gesicht, die lakonische Art und seine ewige leichte Missbilligung. Ihrer Ansicht nach hätten Nöl und seine Partnerin Synnia gekränkt sein müssen, weil sie in ihrem Alter immer noch Forschungsassistenten waren. Stattdessen waren sie trotz ihres Status in der Medrey sehr zufrieden. An manchen Tagen hinterfragte sie deshalb ihren eigenen Ehrgeiz.
»Gegen Ende der Ferien fahre ich eine Woche nach Hause«, erklärte Irinna. »Bis dahin habe ich nichts weiter vor.«
»Rein gar nichts?«, fragte Synnia mit einem kleinen Blitzen in den Augen.
»Absolut nichts«, bekräftigte Irinna. »Nichts und niemanden. Ich will nicht mit jemandem anbandeln, ich will die Datensätze nicht noch einmal prüfen. Ich kann mich ausnahmsweise mal entspannen und nehme mir Zeit, um mich zu erholen.«
Jessyn grinste. »Das sagst du jetzt. Aber du weißt doch, wie es läuft. Auf einmal hat Tonner eine Idee, und wenn er jemanden bittet, es sich anzusehen, bist du sofort zur Stelle.«
»Du aber auch«, wandte Irinna ein.
»Ich habe aber nicht vorher verkündet, ich würde in den Ferien auf keinen Fall arbeiten.«
Irinna wischte den Einwand weg wie eine lästige Fliege. »Ich bin betrunken. Heuchelei ist die natürliche Gefährtin des Biers.«
»Wirklich?«, fragte Nöl. »Das wusste ich noch gar nicht.«
Jessyn mochte Irinna, weil die junge Forscherin so war, wie sie selbst in ihrer Jugend gern gewesen wäre: klug, hübsch, und die ersten Keimlinge ihres Selbstvertrauens brachen durch die Krume ihrer Unsicherheit. Dafyd, wo immer er auch an diesem Abend war, mochte sie wegen seiner stillen Nützlichkeit. Und Campar für seinen Humor, Rickar für seinen lässigen Kleidungsstil und seinen fröhlichen Zynismus. Und heute Abend mochte sie alle, weil sie gewonnen hatten.
Monatelang hatten sie gemeinsam in ihren Laboratorien gearbeitet und dort mehr Zeit verbracht als daheim. Mit der Zeit war ein familiäres Gemeinschaftsgefühl entstanden, eine Vertrautheit, die tiefer ging als bei gewöhnlichen Arbeitskollegen. Es war ein Rhythmus der Nähe. Ohne es bewusst anzustreben, hatte Jessyn alle anderen gut kennengelernt. Sie spürte es, wenn Rickar eine Proteinanalyse überprüfen wollte und wann er bereit war, einen fragwürdigen Datensatz stehen zu lassen. An welchen Tagen Irinna schweigend und konzentriert arbeiten würde und wann sie zu viel redete und störte. Sie schmeckte den Unterschied, wenn Dafyd oder Synnia den Kaffee zubereitet hatten.
An die Stille in dem Raum, als die ersten vorläufigen Resultate hereinkamen, konnte sie sich noch gut erinnern. Ein radioaktiver Marker in einem Membranprotein, das in der einheimischen Biosphäre von Anjiin vorkam, war in einem Grashalm aufgetaucht. Er war klein und beinahe unsichtbar und bildete trotzdem den Wendepunkt, an dem sich alles ändern würde.
Ihre eigenartige, bunt zusammengewürfelte Gruppe hatte einen Stammbaum des Lebens auf einen anderen übertragen. Es war ihnen gelungen, zwei völlig inkompatible Methoden der Erbgutübertragung miteinander auszusöhnen, damit sie zusammenwirken konnte. Der kleine Grashalm war das Produkt einer biochemischen Vermählung, die seit Jahrtausenden einmalig war. Eine Stunde lang, vielleicht war die Spanne auch ein wenig kürzer, waren die neun Wissenschaftler die einzigen Menschen auf der Welt gewesen, die davon wussten.
So vielversprechend ihr Erfolg auch war, so viele Lobeshymnen ihnen auch zuteilwurden, die Magie dieses Augenblicks war immer noch eine kostbare Erinnerung. Ein kleines Geheimnis, das sie miteinander geteilt hatten. Ein Erlebnis, über das sie nur untereinander reden konnten, denn sie waren die Einzigen, die es wirklich verstanden, diese Kombination aus Ehrfurcht und Befriedigung. Selbst als Jessyn es ihrem Bruder berichtete, dem sie alles erzählte, konnte der nur ahnen, was sie meinte.
Auf der anderen Seite des kleinen Platzes trat eine Band auf. Zwei Trompeten spielten synchron ineinander verwobene Melodien, während ein Schlagzeuger einen treibenden, komplizierten Rhythmus beisteuerte. Irinna fasste Jessyns Hand und zog sie hoch. Zuerst sträubte sie sich wie üblich, aber dann ließ Jessyn sich mitreißen. Sie schlossen sich den Menschen an. Es war ein einfacher Tanz, die Schritte hatten sie schon in der Kindheit so gut gelernt, dass sie sich auch als betrunkene Erwachsene leicht daran erinnern konnten. Jessyn ließ sich in der Musik und der Begeisterung treiben. Ich gehöre zum erfolgreichsten Forscherteam auf der Welt. Ich habe keine Angst, in der Öffentlichkeit zu tanzen. Mein Gehirn lässt mich heute nicht im Stich. Heute ist ein guter Tag.
Als der Tanz vorbei war, hatten sich Nöl und Synnia zurückgezogen. Vermutlich kehrten sie, dachte Jessyn, zu dem kleinen Haus am Rand der Medrey zurück, in dem sie wohnten. Irinna trank ihr Bier aus und schnitt eine Grimasse.
»Schal?«, fragte Jessyn.
»Und warm. Aber immer noch gut genug zum Feiern. Vielen Dank übrigens.«
»Warum bedankst du dich?«
Irinna richtete den Blick auf die Füße und hob nach einem Moment den Kopf. Sie war ein wenig errötet. »Du und die anderen, ihr wart so freundlich, als ihr mir erlaubt habt, dabei mitzuwirken.«
»Eigentlich nicht«, erwiderte Jessyn. »Du hast deine Aufgaben gut erledigt.«
»Trotzdem …« Irinna machte einen impulsiven Schritt und küsste Jessyn auf die Wange. »Trotzdem bin ich dir dankbar. Dies war das beste Jahr, das ich je erlebt habe. Ich bin sehr dankbar.«
»Ich auch«, stimmte Jessyn zu. Und dann, in stummem Einvernehmen, gingen sie getrennter Wege. Auf den Straßen und in den Gassen nahm das Fest zum Jahresende seinen Lauf: Musik und Gelächter und die überheblich-trunkenen Debatten der Gelehrten, die einander beweisen wollten, wer der Klügste im ganzen Land war. Jessyn schob die Hände in die Hosentaschen und wanderte zufrieden durch die Nacht.
In diesem Augenblick stand sie ein wenig außerhalb der Medrey, auch wenn sie sich auf dem Gelände bewegte. In der Welt der Wissenschaft, wo Status und intellektuelle Fähigkeiten alles bedeuteten, nahm ihr Team den Spitzenplatz ein. Das konnte nicht ewig so bleiben, aber an diesem Abend hatten sie alles gewonnen. An diesem Abend war sie mit sich und der Welt im Reinen, und nicht einmal die dunklen Dinge im Hinterkopf konnten ihre Stimmung trüben.
Die Wohnung, die sie sich mit ihrem Bruder teilte, befand sich in einem älteren Gebäude. Es war keine gewachsene Koralle, sondern es bestand aus Glas und Stein. Sie mochte es, weil es altmodisch und ruhig war. Jellit mochte es, weil es nahe an seinem Labor und dem Nudelimbiss war, den er bevorzugte. Jellit war nicht da. Seine Arbeitsgruppe richtete zweifellos eine eigene Feier aus. Er würde am Morgen heimkommen oder ihr eine Nachricht schicken, dass er mit irgendjemandem ins Bett gefallen war und sie nicht auf ihn warten solle. Er würde nicht einfach verschwinden und sie mit ihren Sorgen allein lassen.
Sie setzte sich an den Tisch und überlegte, ob sie noch etwas essen oder sich mit einem großen Glas Wasser begnügen sollte, ehe sie ins Bett ging. Sie musste grinsen. Es kam selten vor, dass sie so zufrieden war. Und es war seltsam, ohne jeden Zweifel zu wissen, dass sie gute Arbeit geleistet hatte. Tonner Freis und Else Yannin, Rickar, Campar, Irinna, Nöl, Synnia und auf seine Weise sogar Dafyd Alkhor. Das Team hatte die Tür zu einer neuen, integrierten Biologie geöffnet. Einige Generationen später würden die Lehrbücher über sie und ihre Leistung berichten.
Ihr System sprach an, sie hatte eine Nachricht bekommen. Sie rechnete damit, dass es Jellit war, doch das Symbol gehörte zu Tonner Freis.
Als sein Gesicht auf dem Bildschirm erschien, wurde Jessyn schlagartig nüchtern. Sie hatte seine Stimmungswechsel schon oft beobachtet und bemerkte sofort, wie aufgebracht er war.
»Jessyn, ich brauche dich morgen im Labor bei einer dringenden Sitzung. Und sprich auf keinen Fall mit irgendjemandem darüber.«
3
Die Laboratorien in der Medrey waren gespenstisch leer. Dafyd wanderte durch gekrümmte Flure, Galerien und Besprechungszimmer, in denen sich während des akademischen Jahres Gelehrte, Kunsthandwerker und Vertreter der Ausschüsse trafen. Jetzt waren die Räume fast völlig verlassen. Zwei Männer in harten, mit Kunststoff überzogenen Schutzanzügen übermalten eine Wand. Ein gestresst wirkender Mann eilte wegen eines dringenden Botenganges vorbei. Ein Spatz, der irgendwie den Weg nach drinnen gefunden hatte, flatterte durch die leeren Flure und suchte nach Essensresten oder einem Ausgang. Eine Forschungsassistentin, die Dafyd vom Chitinarchitekturprojekt kannte, saß mit abwesendem Blick auf einer Bank und aß ein Sandwich. In einem improvisierten Kreis aus drei Sofas und einem Stuhl tagte vor der geschlossenen Kantine der Kriegsrat.
Tonner und Else saßen auf einem Sofa, zwar nebeneinander, aber nicht zusammen, und wahrten das Gleichgewicht zwischen Nähe und Professionalität. Campar lümmelte auf einem eigenen Sofa. Der große, düstere und ungepflegte Mann wirkte gleichermaßen amüsiert und verschlafen, beinahe wie ein Bär in einem Comic für Kinder. Neben ihm besetzte Nöl mit seinem Runzelgesicht und dem grau melierten Stoppelbart den einzigen Stuhl. Dafyd sah sich nach den anderen um, doch bisher war niemand sonst zu sehen. Als er sich auf dem freien Sofa niederließ, nickte Nöl ihm zu.
»Sind wir komplett?«, fragte Dafyd.
»Jessyn ist unterwegs«, berichtete Tonner. Von dem lächelnden, selbstbewussten Mann im Akademikerclub war nichts mehr zu sehen. Seine Augen waren dunkel wie Gewitterwolken, und der Unterkiefer war angespannt. Wer das letzte Jahr über Gelegenheit gehabt hatte, Tonners innere Wetterlagen kennenzulernen, wusste genau, dass es jetzt das Beste war, den Mund zu halten und abzuwarten.
»Synnia ist daheim geblieben«, erklärte Nöl. »Es ging ihr nicht gut. Was mit Rickar und Irinna ist, weiß ich nicht.«
Tonners Antwort klang eisig und zugleich vorsichtig. »Ich dachte, wir halten sie im Moment lieber heraus.«
Dafyd lief es kalt über den Rücken.
Campar stieß einen leisen, ungeduldigen Laut aus und legte den Kopf schief. »Die Spannung ist kaum auszuhalten. Was genau ist denn die Sache, über die wir mit niemandem reden sollten?«
»Wir warten noch auf Jessyn«, entschied Tonner. Else richtete ihre Aufmerksamkeit auf Dafyd, ihre Blicke trafen sich einen Moment und wanderten rasch weiter, als gelte es, ein Geheimnis zu hüten. Leider war das einzige Geheimnis weit und breit jenes, das Tonner ihnen gleich offenbaren würde.
Als Erstes hörten sie nicht Jessyn selbst, sondern die begeisterte und laute Stimme ihres Bruders. Gleich darauf kamen sie um die Ecke. Jessyn war klein, rundlich und ernst. Jellit war schlaksig und linkisch wie ein Fohlen und zeigte ein Grinsen, das seinem Tonfall entsprach. Davon abgesehen, waren sie einander sehr ähnlich: goldbraune Haut, schwarze Haare und Augen. Beide hatten ein Muttermal auf der rechten Wange, als hätten ihnen die Götter der Genetik und der Evolution ein kleines Markenzeichen mitgegeben. Sie bewegten sogar die Hände auf eine ähnliche Weise und zuckten erst links und dann rechts mit den Achseln. Dafyd mochte Jessyn, was automatisch ihren Bruder einschloss. Sie waren wie zwei Hälften ein und desselben Organismus.
Aus irgendeinem Grund war Jellit sehr aufgeregt. Als er sich näherte, wedelte er mit einer großen Hand. »Außerdem ist diese extrasolare Aktivität eigenartiger als alles, was wir bisher gesehen haben. Ein Datensatz gibt Anlass zu der Vermutung, sie sei überlichtschnell, was bisher aber alle für einen Messfehler halten.«
Er wandte sich um und begrüßte die anderen. Schlagartig wurde er ernst.
»Wir sind nur zusammen hierhergelaufen«, erklärte Jessyn, während sie sich neben Dafyd auf das Sofa setzte.
»Ist dies eine Teambesprechung?«, fragte Jellit, und ehe jemand antworten konnte, fuhr er fort: »Ich gehe einen Tee trinken. Wir sehen uns dann zu Hause.«
»Bis dann«, rief Jessyn ihrem Bruder hinterher, der sich bereits entfernte. Sie stieß ein fast unhörbares und höchstwahrscheinlich unbewusstes Seufzen aus. Dann wandte sie sich an Tonner. »Tut mir leid, dass ich zu spät dran bin.«
»Überlichtschnell?«, fragte Campar und zog eine buschige Augenbraue hoch.
»Jellit hat eine perverse Vorliebe für offensichtlich kaputte Daten«, erklärte Jessyn. »Er hält das für witzig, weil es den Forschungsausschuss nervös macht.«
Campar kicherte. »Ich finde die charmante Perversität deines Bruders wirklich bezaubernd. Er ist doch Single, oder?«
»Keine Affäre mit meinem Bruder«, warnte Jessyn. Es war ein alter Scherz zwischen ihnen.
»Danke, dass ihr trotz der Ferien kommen konntet. Es tut mir leid, dass ich eure wohlverdiente Erholungsphase stören musste«, begann Tonner und beendete damit das Geplänkel.
Alle hörten ihm zu wie Studenten dem Dozenten. Elses Miene war ruhig und gleichmütig, und auch sie konzentrierte sich auf Tonner, als wüsste sie nicht längst, was er jetzt auch den anderen sagen wollte. Natürlich war sie eingeweiht, darauf hätte Dafyd sogar Geld gesetzt. »Wir haben ein Problem. Irgendjemand hat den Vergabeausschuss gebeten, unsere Arbeit neu aufzuteilen.«
Jessyn erbleichte. Campar beugte sich vor. Die Verspieltheit und der Humor, die ihn gewöhnlich auszeichneten, waren völlig verschwunden. Nur Nöls Miene und seine Haltung änderten sich nicht. Er nickte leicht, als hätte er damit gerechnet, dass ihn das Universum irgendwie enttäuschen würde. Er war auch der Erste, der sich wieder fing und etwas sagen konnte. »Kennen wir den Grund dafür? Werden wir für irgendetwas bestraft?«
Tonner sah Else an und lenkte die Aufmerksamkeit der Zuhörer auf sie. Dafyd fragte sich, ob sie den Auftritt geprobt hatten, oder ob sie einfach nur gut aufeinander eingespielt waren und sich ohne bewusstes Nachdenken die Bälle zuwarfen. »Soweit wir es sagen können, wird behauptet, unsere Arbeit sei zu wichtig, um sie nur an einem einzigen Ort und nur von einem einzigen Team durchführen zu lassen«, erklärte sie. »Die wichtigsten Gelehrten sollen an andere Medreys und Collegia versetzt werden, um parallel ablaufende Forschungsprogramme in Gang zu setzen. Einer der jüngeren Forscher soll hierbleiben und die Arbeit leiten, die schon im Gange ist.«
Campar stieß ein lautes, bitteres Lachen aus. Vielleicht zu laut. Dafyd sah sich nervös um, doch außer dem Mädchen mit dem Sandwich war niemand in der Nähe, und sie blickte nicht in ihre Richtung.
»Ein Anfänger soll übernehmen, und die Großen und Mächtigen werden vertrieben?«, sagte Campar. »Da hat uns jemand einen Dolch in den Rücken gejagt, aber ich schwöre bei jedem Gott, den du nennen möchtest, dass ich es nicht war.«
»Es besteht kein Zweifel daran, dass es mit jemandem aus unserem inneren Kreis begonnen hat«, sagte Tonner. »Aber wir müssen davon ausgehen, dass der Plan von jemandem eingereicht wurde, der mit der Dyan-Akademie in Verbindung steht.«
»Warum denkst du das?«, fragte Nöl. »Wenn es dir nichts ausmacht, uns Näheres mitzuteilen.«
Else zeigte auf Dafyd, woraufhin sich die Aufmerksamkeit der ganzen Gruppe auf ihn richtete.
»Ich bin im Akademikerclub jemandem begegnet«, berichtete Dafyd. »Llaren Morse. Er arbeitet an astronomischer Nahfeldvisualisierung, aber er wusste, dass etwas im Gange war. Er hat sich hämisch gefreut. Und er arbeitet in Dyan. Danach habe ich eine höhere Managerin überrumpelt, und sie hat sich ein wenig zu viel Mühe gegeben, nichts darüber zu sagen.«
»Auch wenn es zutrifft, ist das kein Beweis für eine Verbindung zur Dyan-Akademie. Es reicht nicht«, wandte Nöl ein. »Dieser Morse kann auf einem ganz anderen Weg irgendetwas erfahren haben. Jellit arbeitet doch ebenfalls an Nahfeldtechniken, oder? Jessyn könnte den Plan formuliert und ihrem Bruder unterbreitet haben.«
Jessyn schnaubte wütend.
Nöl wedelte beschwichtigend mit einer Hand. »Ich sage ja gar nicht, dass du es warst. Ach was, ich hätte den Plan auch selbst aushecken können. Ich kenne einige Leute in Dyan.«
»Ja. Im Moment ist es nur eine Arbeitshypothese«, stimmte Tonner zu. »Wir werden sie bestätigen oder verwerfen. Ich konnte übrigens herausfinden, wer für die drei neuen Laboratorien vorgesehen ist. Das wären ich selbst, Else und Jessyn. Nein, ich glaube nicht, dass sie es war. Campar hat bereits eine Stelle in Burson und den Wechsel eigens verschoben, um uns beim Abschluss der ersten Phase zu helfen. Daher sehe ich auch keinen Grund, ihn zu verdächtigen.«
Nöl schürzte missbilligend die Lippen, erhob aber keine Einwände.
»Irinna?«, fragte Campar. »Sie hat das erste Semester in Dyan absolviert. Aber ich würde nicht annehmen …«
»Nein, sie ist es nicht«, unterbrach Jessyn. »So etwas würde sie nie tun. Dies ist ihr erstes Team, wir sind alle noch Anfänger, aber sie ist kaum mehr als eine Assistentin.« Kaum dass sie es gesagt hatte, zuckte sie verlegen zusammen. Ihr Blick irrte zu Dafyd und Nöl, dann wandte sie sich wieder ab.
»Rickars Vater ist ein Landgraf und lebt in der Nähe von Dyan«, erklärte Else. »Er bestreitet zu zehn Prozent den Unterhalt der Akademiegebäude. Wirklich schlüssig ist es nicht, aber … es spricht einiges für ihn.«
»Ich ziehe ungern voreilige Schlussfolgerungen«, wandte Campar ein. »Ich würde es aber in professioneller Hinsicht für ratsam halten, ihn zu schnappen und die Wahrheit aus ihm herauszuprügeln, oder?«
»Sind wir denn sicher, dass die Einrichtung neuer Projekte wirklich eine schlechte Idee ist?«, überlegte Jessyn. Sofort verstummten alle anderen. Beschwichtigend hob sie beide Hände. »Natürlich geht es auch um Macht, das verstehe ich. Es ist nicht gut für uns. Für keinen von uns. Das gilt für uns als Individuen und zumindest kurzfristig. Aber wenn es nun gut für das Projekt ist? Vier Laboratorien, die gemeinsam und koordiniert weiterarbeiten? Das könnte ein großer Schritt sein. Ich meine, wollen wir nicht die Forschung an anderen Orten steuern? Andere Projekte inspirieren? Wie sieht denn ein Durchbruch aus, wenn nicht so?«
»Das Team in alle Winde zu verstreuen, ist nicht das, was ich mir unter einem Sieg vorstelle«, widersprach Nöl sanft, aber mit unverkennbarer Bitterkeit.
Der Schwarm gibt vor, das Sandwich zu genießen. Die Wirtin isst, während er hierhin und dorthin drängt und flattert und die unzähligen tastenden Sinne auf die kleine Gruppe richtet. Der Körper, den er besetzt hat, gehörte einst einer Frau, die Ameer Kindred hieß. Sie ist jetzt zugleich tot und nicht tot. Der Schwarm spürt das Essen im Mund der Wirtin. Er weiß, dass Ameer das Essen früher genossen hat. Er nimmt die Kontrolle über das Gesicht der Frau ein wenig zurück, damit sich der Genuss entsprechend in ihrer Miene spiegeln kann. Der Schwarm, der zugleich Ameer Kindred und doch nicht Ameer Kindred ist, versteht ein wenig besser, was es bedeutet, Essen zu genießen, und archiviert die Information zur späteren Nutzung.
Der Satz von Anweisungen, der diese Mission des Schwarms steuert, ist viel zu komplex, um in Form einfacher Regeln ausgedrückt zu werden, doch wenn dies möglich gewesen wäre, dann hätte die erste Regel gelautet: lass dich nicht entdecken. Alles, was es erleichtert, menschliche Interaktionen mit der Umgebung nachzuahmen, ist wichtig für den Erfolg.
Der Schwarm richtet die Aufmerksamkeit auf die Ziele und schiebt eine Million winzige Nadeln wie Antennen durch die Haut der Wirtin. Die neuen Sinnesorgane beben vor Gier, alles zu sehen/hören/schmecken.
Zwei Angehörige der Gruppe kennt er bereits. Tonner Freis, der Anführer und Leiter. Der Forscher, der in diesem alles entscheidenden Augenblick auf dieser Welt den höchsten Status genießt. Und die Frau an seiner Seite, Else Yannin, die den zweithöchsten Status in der Gruppe hat. Der Schwarm richtet die Aufmerksamkeit auf die Pheromone und öffnet neue Kanäle in der Haut von Ameer Kindred, um die feinsten menschlichen Düfte zu trinken. Furcht. Wut. Sorge. Lust. Kummer. So viele chemische Signale strömen aus dieser kleinen Gruppe von Körpern heraus. Ameer weiß, was diese Emotionen bedeuten, ihre Erinnerungen sind voller Gefühle, und sie kennt die jeweiligen Ursachen. Daher weiß auch der Schwarm dies alles, und die Datenmatrizes, die das Verständnis von der sozialen Dynamik der Gruppe abbilden, werden durch dieses Wissen bereichert. Der Schwarm spürt etwas, das Ameer als Zufriedenheit über diesen zunehmend komplexen Informationsfluss bezeichnen würde.
Zwei Neuankömmlinge treffen ein. Sie riechen sehr ähnlich – ein Mann und eine Frau. Genetisch eng verwandt, wie der Schwarm berechnen kann. Bruder und Schwester, denkt Ameer, und der Schwarm fügt diese Information den Daten hinzu.
Der Schwarm konzentriert sich jetzt auf das Gehör. Ameer Kindreds Haut spannt sich dank der unzähligen hervortretenden Metallhärchen wie ein Trommelfell, bis ihr ganzer Körper ein Ohr ist, das äußerlich einer jungen Frau ähnelt. Die Stimme des Bruders ist laut wie ein Ruf. Außerdem ist diese extrasolare Aktivität eigenartiger als alles, was wir bisher gesehen haben, sagt er. Ein Datensatz gibt Anlass zu der Vermutung, sie sei überlichtschnell. Der Schwarm ist nicht fähig, Angst zu empfinden, doch er verspürt jetzt eine zunehmende Dringlichkeit. Er weiß, dass nur noch sehr wenig Zeit bleibt. Der Bruder entfernt sich wieder. Er gehört nicht zu dieser Arbeitsgruppe. Der Schwarm ignoriert ihn und verlagert die Aufmerksamkeit, während er die erforderliche neue Konfiguration der Haut sucht, die es ihm erlaubt, die Mission fortzusetzen.
Sie sprechen, und er hört ihnen zu. Seine Sinne sind fein und fremdartig. Er findet Rhythmen in ihrem Herzschlag, die ihnen nicht einmal selbst bewusst sind. Er zeichnet die Verbindungen zwischen ihnen nach wie Wasser, das sickernd seinen Weg durch Steine findet. Er versteht und bewahrt, was ihm nützlich sein könnte. Oder vielleicht auch nicht. Was nicht nützlich ist, wird aufgegeben. Vergessen. Gelöscht.
Ameer Kindred spürt die Absichten des Schwarms. Sie weiß, dass ihre Zeit als Wirtin zu Ende geht. Jede Sekunde jedes Tages, seit der Schwarm sie übernommen hat, schreit Ameer innerlich ihren Hass über die Invasion ihres Körpers hinaus, obwohl sie genau weiß, dass der Schwarm sie nicht leben lassen wird, wenn er weiterzieht. Der Gedanke an ihren nahenden Tod ist wie ein Ozean voller Kummer.
Diese Trauer ist im Augenblick für den Schwarm nicht nützlich, also legt er sie ab und ignoriert sie.
Sind wir denn sicher, dass die Einrichtung neuer Projekte wirklich eine schlechte Idee ist?, fragt die Schwester, die dort geblieben ist. Der Schwarm sieht zu und wartet.
Er kann es sich nicht erlauben, noch viel länger zu warten.
»Das Team in alle Winde zu verstreuen, ist nicht das, was ich mir unter einem Sieg vorstelle«, widersprach Nöl sanft, aber mit unverkennbarer Bitterkeit.
Jessyn zuckte mit den Achseln – eine kaum wahrnehmbare Geste –, wandte aber den Blick nicht ab. Tonner stand auf. Hätte sein Blick Dafyd getroffen, dann wäre dieser ängstlich zurückgewichen. Jessyn jedoch ließ sich nicht beirren.
»Wenn du ein eigenes Labor haben willst, kannst du sicherlich eines bekommen«, sagte er. »Aber ich möchte meines nicht auf diese Weise verlieren.«
»Allerdings«, stimmte Campar zu. »Ich will mich lieber mit der Verheißung von Reichtum und Macht weglocken lassen, wie es die Tradition gebietet.«
Tonner hörte nicht zu, sondern konzentrierte sich ganz und gar auf Jessyn. Zwei unerbittliche Geister trafen aufeinander wie ein Schweißbrenner auf einen Felsen. Else rief Tonner, doch sie hätte ebenso gut in einem anderen Raum sein können. Das Schweigen zwischen den beiden Forschern dehnte sich unbehaglich, und der Stein brach, ehe die Flamme erlosch. Jessyn wandte den Blick ab. »Ich verstehe, was du meinst«, sagte sie.
Dafyd atmete erleichtert aus.
Tonner stand mit finsterer Miene auf und wanderte in dem kleinen Raum hin und her, als hätte ihn die Konfrontation aufgewühlt. Campar fing Dafyds Blick ein und hauchte: Daddy ist wütend.
»Noch können wir etwas unternehmen«, erklärte Tonner. »Wenn wir herausfinden, wer im Team dahintersteckt, könnten wir an den richtigen Stellen Druck ausüben. Selbst wenn sie den Plan zurückziehen, könnte er im Ausschuss auf Zustimmung stoßen. Dafyd, dabei kannst du uns helfen.«
»Ich werde tun, was ich kann«, sagte er, ohne irgendetwas Konkretes zu versprechen. Er malte sich bereits die Unterhaltung mit seiner Tante aus. Es würde eine heikle Angelegenheit werden.
»Else und Campar können sich Irinna vorknöpfen, um sich zu vergewissern, dass sie nicht dahintersteckt. Jessyn und Nöl kümmern sich um unseren Freund Rickar.«
»Warum wir?«, fragte Nöl. »Nicht, dass ich etwas dagegen habe, aber …«
»Jessyn kann ihre Verbindung mit Jellit nutzen, um etwas über Llaren Morse in Erfahrung zu bringen«, schlug Dafyd vor. »Sie beschäftigen sich beide mit Nahfeldtechnik. Da das akademische Jahr zu Ende ist, dürfte es leicht sein, einen Kontakt herzustellen.«
Tonner nickte. »Ich koordiniere eure Arbeit und gebe irgendwelchen mächtigen Ohren lautstark zu verstehen, wie wichtig es ist, das Team beisammenzuhalten.«
»Verdammt auch«, sagte Campar unvermittelt und zuckte mit den breiten Schultern. »Palastintrigen sind nicht gerade die Beschäftigung, mit der ich meine Ferien verbringen wollte. Aber im Schatten umherzuschleichen und Spione zu verhören, ist vermutlich auch nicht gerade langweilig.«
»Tut mir leid«, sagte Dafyd, obwohl er selbst nicht recht wusste, warum ausgerechnet er sich entschuldigen sollte.
Elses Lächeln wirkte gezwungen und mühsam, wurde aber wärmer, sobald sie sich an Dafyd wandte. Ein Grübchen auf der linken Wange, zwei auf der rechten. »Es ist schwer, aber ich kann mir gar nicht vorstellen, wie viel schwieriger es geworden wäre, wenn wir es herausgefunden hätten, nachdem alles schon entschieden gewesen wäre, sodass wir nichts mehr hätten ändern können.«
»Wir müssen das Team schützen«, sagte Dafyd. Else beugte sich vor und drückte sein Handgelenk. Instinktiv reagierte Dafyd auf die Berührung und bemühte sich, sie nicht über Gebühr auszudehnen, obwohl ein einfach gestrickter animalischer Anteil in ihm nichts lieber als das wollte. Ihm fiel auf, dass das Mädchen mit dem Sandwich verschwunden war.
»Also«, sagte Tonner. »Jetzt wollen wir planen, wie wir weiter vorgehen. Ich will nichts dem Zufall überlassen. Nicht, wenn so viel auf dem Spiel steht.«
Nöl räusperte sich und hob einen Finger. Tonners Stirnrunzeln vertiefte sich, doch die Wut war aus seiner Stimme gewichen. »Möchtest du etwas sagen?«
»Ja«, antwortete der ältere Forscher. »Haben wir eigentlich die Möglichkeit ausgeschlossen, einfach zu fragen?«
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