17. Januar 2016 2 Likes

American Angst

Alan Moores und Jacen Burrows‘ verpuzzlete Lovecraft-Co(s)mic-Horror-Historiografie „Providence“

Lesezeit: 6 min.

„Die im Folgenden geschilderten Ereignisse beruhen auf einer wahren Geschichte.“ Es sind längst nicht nur Erzählungen des Genres Bürgerlicher Realismus, denen ein solcher oder ähnlicher Satz vorangestellt wird. Schließlich klingt in der ‚wahren Geschichte‘ eine leise contradictio in adiecto an, sind doch Geschichten ihrem Wesen nach mehr oder weniger ausgeschmückte, durchdramatisierte, eben Erzählregeln folgende Dinger. Noch vertrackter wird es, wenn die zugrundeliegende Wahrheit eine ist, die von furchtbaren arabischen Grimoires, unaussprechlichen Kulten, Hexen und Hexern, Mensch-Fisch-Hybriden und unirdischen Monstren zusammengehalten wird.


Doch gerade derartige Voraussetzungen lassen den psychogeografischen Comic-Szenaristen und Storyteller Alan Moore bekanntermaßen erst so richtig aufdrehen. Willkommen in Providence, dem auf zwölf Einzelhefte angelegten großen Projekt, mit dem sich Alan Moore zusammen mit Zeichner Jacen Burrows aufmacht, Leben und Werk des amerikanischen Horror-Fantasten Howard Phillips Lovecraft durch den bei diesem (also Moore) Autor inzwischen wohlbekannten metafiktionalen Wolf zu drehen. Das bereits hochaktive Providence-Dechiffrier-Syndikat nennt das kurz und bündig Moorecraft.


Sechs Hefte liegen vor, und soeben sind die ersten vier gesammelt in einem Paperback auf Deutsch bei Panini erschienen – der Übersetzerin Gerlinde Althoff, die deutsche Stimme Alan Moores, ist auf Knien dafür zu danken, neuerlich so überragende Arbeit geleistet zu haben, denn die in etliche Richtungen anspielungsreichen Verzwickt- und Vertracktheiten des Handlungsverlaufes (so man überhaupt von so etwas wie Handlung im herkömmlichen Sinne sprechen mag) in Kombination mit Moores in diesem Fall besonders komplex-gehobenem, doppel- bis vierfachbödigem und nicht zuletzt historisch akkuratem Englisch macht die Lektüre des Originales zu einer harten Nuss. Da ist eine derart makellose Übertragung wie die vorliegende keine Selbstverständlichkeit.



Providence – Die Cover der US-Hefte 1-4

Dabei ist die unmittelbare Geschichte (doch, davor muss man keine Angst haben, es gibt sie durchaus) die im Grunde unspektakuläre (und entsprechend bedächtig entfaltete) einer Buchrecherche. Der junge homosexuelle und jüdische Journalist Robert Black entdeckt im Jahr 1919 Spuren eines von Okkultisten und diversen berüchtigten Büchern tradierten verborgenen, untergründigen Amerikas und plant, einen dokumentarisch-faktisch belegten Roman darüber zu schreiben. Auf der Suche nach einem arabischen Alchemie-Text aus dem achten Jahrhundert mit dem Titel „Buch über die Weisheit der Sterne“ durchreist Black Neu-England, wird von Mitgliedern und Ex-Mitgliedern eines esoterischen Geheimordens namens „Stella Sapiente“ von einem neuralgischen Ort zum nächsten geschickt, träumt zunehmend merkwürdige Träume und führt über all seine Erlebnisse ein Kollektaneenbuch, in dem er Ideen, Gedanken und Material für sein eigenes Projekt sammelt und das außerdem als Tagebuch fungiert (und jedes Comic-Kapitel als Anhang ergänzt).


Die Lovecraft-Referenzen und -Codierungen sind dabei unterschiedlichen Charakters. Jede Episode zitiert den Kern-Topos jeweils einer Lovecraft-Erzählung: Teil 1 bezieht sich auf „Kühle Luft“, Teil 2 auf „Grauen in Red Hook“, Teil 3 auf „Schatten über Innsmouth“ und Teil 4 auf „Das Grauen von Dunwich“. Innerhalb dieser Pastiche-artigen narrativen Klammern gibt es dann wiederum unzählige, mal explizite und mal subtile Bezüge auf etliche andere Lovecraft-Geschichten bzw. Motive und Figuren, durch die Moore für dessen Werk eine Kohärenz konstruiert, die weit, sehr weit über das hinausgeht, was nach allgemeiner Übereinkunft als „Cthulhu-Mythos“ oder jedenfalls Quasi-Monster-Mythologie Lovecrafts überschaubares literarisches Schaffen (jedenfalls ab einer bestimmten Werksphase) zusammenhält. Sie alle haben ihren Auftritt, wie etwa die Hexe Keziah Mason aus „Träume im Hexenhaus“, der Hexer Joseph Curwen aus „Der Fall Charles Dexter Ward“ oder der mit zwei monströsen Enkeln gesegnete alte Whateley aus „Das Grauen von Dunwich“ – allerdings heißen die entsprechenden Protagonisten bei Moore Hekeziah Massey, Japheth Colwen und Garland Wheatly.


Eine Innenansicht aus „Providence“

Wie verschlungen die Brezeln dabei mitunter sind, zeigt die Hauptfigur. Robert Black ist natürlich an Robert Blake, den Protagonisten von „Der leuchtende Trapezoeder“, angelehnt. Diese Kurzgeschichte ist wiederum nicht nur Lovecrafts Schriftstellerkollegen Robert Bloch zugeeignet, sondern porträtiert diesen als Schöpfer morbider bildender und literarischer Horror-Kunst, der sein Leben an die grauenhafte Faktizität vermeintlich imaginären Grauens verliert. Und schließlich scheint in Black nach und nach jener Autor zu erblühen, den die Literaturgeschichte als H.P. Lovecraft kennt – das jedenfalls legen die im Kollektaneenbuch festgehaltenen Entwürfe künftiger Fiktionen zunehmend nahe. Wie Moore dabei zum Beispiel die Genese der Vorstellung eines physiognomisch äußerst exzentrischen außerirdischen Monstrums auf eine mit Buntstiften angefertigte Kinderkritzelei zurückführt: das ist so abgründig raffiniert wie verspielt-dreist.


All diese (mit Salem = Innsmouth oder Manchester = Arkham auch Orts- bzw. Städtenamen betreffenden) dezenten Verschiebungen geben Moore die Freiheit, vom Amerika des Jahres 1919 und gleichzeitig seine Version der Origin-Story der Geschichten (sie beruhen, wie eingangs angedeutet, furchtbarerweise eben auf wahren) zu erzählen, für die Lovecraft als nach Edgar Allan Poe größter amerikanischer Horror-Fantast kanonisiert ist: „Providence is an attempt to marry Lovecraft’s history with a mosaic of his fictions, setting the man and his monsters in a persuasively real America during the pivotal year of 1919: before Prohibition and Weird Tales, before Votes for Women or the marriage to Sonia, before the Boston Police Strike and Cthulhu. This is a story of the birth of modern America, and the birth of modern American terror.” (Moore in Previewsworld) Weird Tales ist eines der Pulp-Magazine, in denen Lovecrafts Erzählungen erstveröffentlicht wurden; Sonia Greene war zwei Jahre lang mit HPL verheiratet; „Cthulhus Ruf“ ist die Geschichte, welche Lovecrafts kosmisches Grauen endgültig in die mythologische Periode überführt.

Nicht zuletzt liefert Moore mit Providence auch eine Auslegung des Lovecraftschen Werkes in Form einer Erzählung – Fiction as Criticism, Poetik als Fiktion, Mythologie als Entmythologisierung – und breitet in epischer Comic-Form seine schon in der Einleitung zu Leslie Klingers The New Annotated H.P. Lovecraft artikulierte These aus, Lovecraft sei „an almost unbearably sensitive barometer of American dread. Far from outlandish eccentricities, the fears that generated Lovecraft’s stories and opinions were precisely those of the white, middle-class, heterosexual, Protestant-descended males who were most threatened by the shifting power relationships and values of the modern world.”


Eine Welt als Mosaik aus Historiografie, Biografie (die Frage, ob der unter einem Grabstein mit der Inschrift ‚I am Providence‘ in ebenjener, seiner Heimatstadt begrabene Lovecraft in den kommenden Folgen leibhaftig in Erscheinung und seinem Semi-Doppelgänger Black gegenübertreten wird, stellt eines der zahlreichen Suspense-Elemente der Serie dar) sowie Literatur-Fort-/Umschreibung, in der reale Ängste keine andere Wahl haben, als sich in unwirklichem Horror zu manifestieren – dieses Konzept wird diejenigen, die Alan Moores breitflächige und gelehrte Bild- und Textweberei seit jeher für mehr oder weniger verblasen halten oder in diesem Fall ein Tentakelmonsterspektakel erwartet haben, auf kühler Distanz zu Providence halten. Aber es wird definitiv sehr unheimlich (wenn auch langsam), und wo Moore draufsteht, ist nun mal Moore drin. Bezüglich der Kühle überraschen schließlich auch die Zeichnungen von Jacen Burrows. Dessen (das Profil des US-Verlages Avatar Press massiv prägende) Grafik haftete immer etwas irgendwie Unsympathisches, Steifes, Misanthropes an; für Providence hat er seinen Stil präzisiert und aufs Allerextratrockenste zurückgefahren, was hervorragend mit Lovecrafts mechanistisch-materialistischem Desinteresse an menschlichen Regungen (außer der grässlichen einen) korrespondiert.



Alan Moore. Foto via vimeo

Jedes Heft erscheint übrigens in sieben Cover-Varianten, die sämtlich auf den letzten Seiten der deutschen Ausgabe abgebildet sind und (abgesehen vom Sammler-Quatsch-Kalkül) dem dahinterliegenden Heftinhalt einen weiteren semantischen Dreh verpassen. Die regulären Titelbilder sind allerdings ganz klar der minimalistische und die lauernde Furcht am konsequentesten nährende Clou – auf ihnen sieht man nichts anderes als Häuser oder Gebäude, in denen die auf den jeweils folgenden Seiten erzählten Geschehnisse kulminieren.


Der Originalverlag hat Providence mit verständlichem und naheliegendem (beide Werke ähneln sich strukturell stark) Marktgeschrei als „Watchmen of Horror“ angepriesen. Bislang sieht es so aus, als hätte er tatsächlich nicht zu viel versprochen.

Alan Moore & Jacen Burrows: Providence 1 · Aus dem Englischen von Gerlinde Althoff · Panini, Stuttgart 2015 · Softcover · 144 Seiten · € 19,99

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