24. Dezember 2020 2 Likes

Musiktipps für die Weihnachtstage

Sieben Alternativen zu „Kling Glöckchen, klingelingeling“ & Co.

Lesezeit: 7 min.

Jetzt mal ehrlich: Muss doch nicht immer Weihnachtsmusik zu Weihnachten sein, oder? Ich mein, schon wieder „Oh Tannenbaum“? Schon wieder „Last Christmas“? Schon wieder „Do they know it’s Christmas?“ Will doch kein Mensch mehr hören! Es gibt doch so viel tolle, moderne, innovative Musik, wer brauch da noch die ewig gleichen Kamellen von gestern? Da dieses Jahr eh alles anders ist, könnte man sich ja auch einfach mal was ganz anderes in die Lauscher schieben – ich hab da ein paar Tipps!

 


Lil Keed

1. Lil Keed: Trapped on Cleveland 3 (Young Stoner Life Records/300 Entertainment)

Wer? Sänger und Rapper, wobei ich nicht recht weiß, ob „Sänger und Rapper“ die passende Bezeichnung ist. Mit Lil Keed konnte ich erst ehrlich gesagt erst nicht so wahnsinnig viel anfangen. Der größte Einfluss, Young Thug, war von Sekunde eins klar, aber Keed treibt’s auf die Spitze: Diese Stimme, die von raus gepressten Tiefen über Halb-Gebrülle und tatsächlichem Gesang bis zu Kreide-auf-Tafel-Gequietsche wechselt, ist erstmal ganz schön gewöhnungsbedürftig.

Warum geil? Aber mit „Trapped on Cleveland 3“ hatte er mich dann bei den Eiern. Woran das genau liegt, kann ich gar nicht wirklich sagen. Aber irgendwie wirkt hier alles stimmig. Das Album ist von A bis Z perfekt durchproduziert und wartet fast durch die Bank weg mit wirklich tollen, einfallsreichen Beats auf und Keeds Vokalakrobatik wirkt konzentrierter eingesetzt, macht Sinn. Ich glaub, wenn Michael Jackson heute noch leben würde, würde er wie Lil Keed klingen. Der perfekte, nach vorne gedachte Pop für die 2020er-Jahre, kreativ und modern. Ich wette, Keed hat noch eine rosige Zukunft vor sich. Ebenso schön: Natürlich wurde auch „Trapped on Cleveland 3“ noch mit einer „Deluxe Edition“ bedacht und die fiel so üppig aus wie selten: Der Nachschlag bestand aus ganzen 18 (!) Songs, was das Album auf satte 37 (!!!) Tracks erweitert. Wundersamerweise aber so gut wie kein Füllmaterial dabei. Ein Monumental-Epos, an dem man viel Freude haben wird.

Mehr: Hier kann man sich die „Deluxe Edition“ anhören, hier geht’s zur offiziellen Homepage.

 


Lil Yachty

2. Lil Yachty: Lil Boat 3.5 (Quality Control Music/Motown)

Wer? Sänger und Rapper mit roten Braids und unverwechselbarer Stimme, der seit 2015 vor allem mit – laut Eigenauskunft – „bubblegum trap“ jede Menge Herzen gewann. Dabei handelt es sich um quirligen, gut gelaunten, poppig angehauchten Trap, der mit Retro-Videospiele- oder -Cartoon-Samples und anderen zum Teil ganz schön alienesken Sounds daherkommt und sich dem Teenie- statt dem Gangstaleben widmet. Yachty hat aber außerdem noch eine dunkel-melancholische, zuweilen aggressive Seite, die vor allem auf dem Album „Lil Boat 2“ (2018) zum Zuge kam. Abwechslung ist natürlich immer schön, aber es ist halt gerade dieses Hin- und Hertingeln zwischen zwei Polen, das ihm den ganz großen Durchbruch verhagelt hat. Was mir persönlich jetzt allerdings nicht wirklich was ausmacht, denn es gibt ja wohl kaum was langweiligeres als Berechenbarkeit.

Warum geil?: Und so fand ich’s nicht uncharmant, dass als erste Single von „Little Boat 3.5“, der Deluxe Edition des aktuellen, empfehlenswerten Albums „Little Boat 3“, ein gerade mal 1,5minütiger (!!!), aber prägnanter Finster-Beat über den Yachty locker freestyled, veröffentlicht wurde. „Coffin“ wurde zum viralen Hit und das hinterher geschobene, von 19 auf 27 Tracks aufgepumpte Paket enttäuschte keinesfalls die Erwartungen und wartet mit weiteren zum Teil brachialen Nummern wie „Flex Up“, aber ebenso lockeren Hymnen wie „Asshole“ auf. Natürlich, als Album gesehen nach wie vor gewohnt holprig, aber halt irgendwie auch schwer ansteckend. Und jetzt alle im Chor: Why you such an asshole? Why you gotta act up? Why you gotta try so hard every day, though? I don’t fuck with you in that way, though why you such an asshole?

Mehr: Hier kann man sich das komplette Album anhören und hier geht’s zur offiziellen Webseite.

 


Kammarheit

3. Kammarheit: Thronal (Cyclic Law)

Wer? Kann ich nicht viel dazu sagen. Jedenfalls steckt der Schwede Pär Boström dahinter, der sich in rund zwei Jahrzehnten – unter verschiedenen Pseudonymen, von denen Kammarheit das Bekannteste ist – zu einem der absoluten Dark-Ambient-Kings aufgeschwungen hat …

Warum geil? … und wer sich „Thronal“ anhört, weiß schon nach ca. zwei Minuten wieso: Da grummelt’s dermaßen apokalyptisch aus den Boxen, dass man sich fragt, wieso Hollywood in den letzten Jahren soviel Geld ausgegeben hat: Schwarzes Bild, Kammarheit drauf und fertig ist der ultimative Kopfkino-Untergang. Und ja, das ist ganz gewiss keine locker-flockige Unterhaltungsmusik, aber irgendwie ist „Thronal“ trotzdem die perfekte Untermalung zum Corona-Heiligabend 2020.

Mehr: Hier kann man sich von „Thronal“ in Gänze verängstigen lassen, auf der offiziellen Homepage gibt’s noch mehr schlechte Laune.

 


Patricia

4. Patricia: Maxyboy (Ghostly International) / Non Zero Sum (Eigenveröffentlichung)

Wer? Hinter Patricia verbirgt sich Max Ravitz, seines Zeichens absoluter Soundtüftler seit Jugendjahren und Teilzeit-Mitarbeiter in einem New Yorker Synthesizer-Laden, der 2013 erstmals mit „Body Issues“ (Opal Tapes) auf sich aufmerksam machte und anfänglich einen kleinen Mythos kreierte, da lange Zeit niemand so recht wusste, wer für diesen aufregenden, melancholischen Techno-Sound in knuspriger Lofi-Verpackung verantwortlich war.

Warum geil? Die Lofi-Klangästhetik ist weitgehend dahin, die neuen Veröffentlichungen sind deutlich cleaner, zeigen eine deutlich größere stilistische Bandbereite und sind zum Teil subtiler, komplexer … phasenweise möchte man meinen, hier ist ein neuer Aphex Twin im Anmarsch, doch die Patricia-typische Melancholie macht jederzeit klar, wer an den Maschinen steht.

Mehr: Hier kann man sich „Maxyboy“ anhören, hier „Non Zero Sum“. Der Soundcloud-Account hält satte 90 Tracks bereit, einiges davon unveröffentlicht.

 


Umfang

5. Umfang – Riven / Camber (beides Eigenveröffentlichungen)    

Wer? Umfang ist das Pseudonym von Emma Burgess-Olson, DJ und Gründerin des Discwoman-Collectivs. Hierbei handelt es sich um eine Plattform und Agentur mit weiblichen DJs und Musikerinnen im Fokus, die bis zum heutigen Tag Veranstaltungen in dutzenden Städte ausgerichtet und dementsprechend für Aufmerksamkeit gesorgt hat. Seit 2015 veröffentlicht Burgess-Olson zudem Musik. Dabei handelt es sich um rauen, abstrakten Techno, alles mit analogen Equipment, alles in einem Rutsch aufgenommen, mit minimaler Nachpolitur.

Warum geil? Wie heißt es so schön? Weniger ist mehr – und Umfangs Musik ist ein Musterbeispiel dafür. Alles ist aufs Allernötigste konzentriert, komplett auf den Punkt und deswegen umso zwingender, zumal die Musikerin trotz aller Experimentierfreudigkeit nie das Publikum aus den Augen verliert. Ein prima Beispiel dafür, wie man mit einem Bein in der Vergangenheit steht (der klassische Detroit-Sound schwebt über allem), aber trotzdem vorwärts denkt (zum Teil fast schon Funk-mäßige Beats, Spoken-Words-Einlagen). Besonders relevant für diese Seite: In „Terminal“ (von „Camber“) wird aus „The Black Beach“ des visionären Vordenkers Edouard Glissan zitiert.

Mehr: Hier kann man sich „Riven“ anhören und hier „Camber“. Ansonsten: Soundcloud, Facebook, Twitter.

 

 


Shinichi Atobe

6. Shinichi Atobe - Yes (DDS)

Wer? Der große Unbekannte. Beliebt und erfolgreich, aber … es gibt nix: Kein Social Media, keine Touren, keine Auftritte, keine PR – der Japaner gibt lediglich ab und zu Musik beim Postamt ab. Die Briten Miles Whittaker und Sean Canty (besser bekannt als Demdike Stare) nehmen das Päckchen in Empfang und veröffentlichen den Inhalt auf ihrem Label DDS. That’s all. Atobe agiert dabei noch nicht mal annonym, Fotos existieren.

Warum geil? Könnte man sicherlich unter „will sich halt irgendwie interessant machen, Promo-Getue“ ablegen, allerdings ist die Musik wirklich toll. Viele Künster reden ja immer davon, dass sie „am liebsten ihre Musik für sich sprechen lassen wollen“, Atobe macht’s wohl einfach und das mit einer introvertierten, federleicht produzierten Mischung aus Dub, Ambient, House und Techno, an der man sich einfach nicht satt hören kann.

Mehr: Wie gesagt, gibt nix, selbst das Label hat keine der üblichen Abspielseiten. Deswegen an dieser Stelle ein Tipp, für alle die an der unten verlinkten Hörprobe gefallen gefunden haben: DDS hat parallel zu „Yes“ eine auf 200 Exemplare limitierte USB Box veröffentlicht, die alle bisherigen Veröffentlichungen Atobes bei DDS enthält: Insgesamt 43 Tracks, 4 ½ Stunden Musik. Am besten kriegt man das gute Stück hier!

 


Prurient (links) & Kelly Moran

7. Kelly Moran & Prurient – Chain Reaction At Dusk (Hospital Productions)

Wer? Den Tausendsassa Dominick Fernow a.k.a. Prurient hatte ich ja an dieser Stelle bereits heftig abgefeiert, bei Kelly Moran handelt es sich um eine Komponistin, Pianistin und Toningeneurin, die seit 2010 elektroakustische Kompositionen veröffentlicht, die man wohl am besten unter Neoklassik wegsortieren kann. Bevorzugte Kompositionstechnik ist das präparierte Klavier, das heißt mittels Platzierung von Gegenständen wie Nägel oder Papier an bestimmten Stellen der Saitenchöre werden dem Instrument ungewohnte Töne entlockt, die dann via Sampler und anderen elektronischen Geräten entsprechend weiterverarbeitet werden.

Warum geil? Das klingt zwar heftig nach der ganz großen Kunst, entpuppt sich auf dieser Split-EP aber als leicht zugängliche, herrlich verträumte, wirklich schöne Instrumentalmusik, die frostige Melodien mit tiefen Bässen verbindet und mit einer ganz eigenen Klangästhetik erfreut. Fernow wiederum wird einmal mehr seinem Ruf als Überraschungsei gerecht und verzichtet fast komplett auf die sonst mit dem Prurient-Pseudonym verbundenen Krachorgien, sondern ergänzt Morans freundlichen Teil mit zwei dunklen, geheimnisvollen, sehr minimalistischen Stücken, die aus dem Gesamtpaket eine ungeheuer faszinierende Medaille mit zwei Seiten machen.

Mehr: Hier kann man sich „Chainsaw Reaction At Dusk“ anhören, hier geht’s zur offiziellen Homepage von Kelly Moran. Fernow mag bis heute kein Social Media.

Große Abb. ganz oben: Prurient

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