5. Oktober 2022 3 Likes

Sturzfahrt

Leider gibt es jetzt nur noch eine Möglichkeit für eine gute Zukunft

Lesezeit: 6 min.

Wir sitzen in einem Bus.

Der Bus rast auf einen Abgrund zu.

Den Sturz in die Schlucht wird man nur mit viel Glück überleben.

Selbst wenn man überlebt, sitzt man in der tiefen Schlucht fest.

Einige im Bus wollen das Steuer herumreißen.

Der Bus fährt so schnell, dass er sich dabei überschlagen könnte.

Dabei könnte sich jemand etwas brechen.

Dabei könnte weitaus Schlimmeres passieren.

Der Fahrer weigert sich, das Steuer herumzureißen.

Die Fahrgäste auf den teuren Plätzen in den ersten Reihen sind ganz seiner Meinung.

„Das Steuer herumreißen? Sind Sie verrückt? Jemand könnte sich ein Bein brechen.“

„Aber wir halten direkt auf den Abgrund zu“, sagen wir. „Wir werden sterben!“

„Quatsch!“, sagen sie. „Bis dahin haben wir längst Flügel erfunden, die man an den Bus montieren kann.“

So geht es hin und her.

„Außerdem“, fügen sie hinzu, „ist überhaupt nicht gesagt, dass wir in den Abgrund stürzen. Vielleicht fahren wir so schnell, dass wir über die Schlucht hinweg springen. Im Film klappt das ja auch. Also immer mit der Ruhe. Hey, Hände weg vom Lenkrad! Sind Sie ein Terrorist? Machen Sie das bloß nicht noch mal. Jemand könnte sich verletzen.“

Die Klimakatastrophe ist Wirklichkeit. Wir durchleben sie gerade. Vor Kurzem habe ich mich bei ein paar befreundeten Schriftstellern, die im Südwesten der USA leben, erkundigt, ob sie oder ihre Häuser durch die Waldbrände bedroht sind. Einer hat noch nicht geantwortet, die anderen haben Entwarnung gegeben, mich aber nach dem Feuer gefragt, das in der Nähe meines Hauses wütet.

Keine Sorge, habe ich geschrieben. Uns ist nichts passiert. Noch nicht. Kalifornien steht dieses Jahr eine höllische Waldbrandsaison bevor. Es ist sehr trocken. Inzwischen wurde offiziell der Katastrophenfall ausgerufen (katastrophal war es schon vorher, aber eben nur inoffiziell).

Leider verhalten wir uns nicht so, wie man sich in einem Notfall verhalten sollte. Vor einigen Monaten berichtete der Guardian über mehrere von den Energiekonzernen geplante, gewaltige Projekte zur Förderung von Öl und Gas, durch die das Ziel, die Klimaerwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, in weite Ferne rücken wird. Wegen des Kriegs in der Ukraine hat die Welt Angst davor, im Winter zu frieren, und um das zu vermeiden, sucht man lieber nach neuen Öl- und Gasquellen, anstatt auf erneuerbare Alternativen zu setzen.

Natürlich nicht. Damit erneuerbare Energien im kommenden Winter russisches Öl und Gas ersetzen können, müsste Europa massiv in bessere Isolierung, Wärmepumpen und Energiespeicher investieren. Aber das sind längerfristige Projekte, die man schon vor Jahrzehnten hätte anstoßen müssen. Doch wir haben es ausgesessen. Und ausgesessen. Und ausgesessen.

So unglaublich es klingt: Es gibt noch immer Leute, die den Klimawandel leugnen. „Vor uns ist kein Abgrund“, sagen sie. „Der Bus fährt schnurstracks auf das gelobte Land zu. Nur ein Narr würde jetzt eine andere Richtung einschlagen.“

Die gute Nachricht: Es gibt immer weniger Klimawandelleugner. Die schlechte Nachricht: Sie haben sich auf Inkrementalismus verlegt. Das hört sich dann so an: „Wir bekommen das mit dem Klima schon hin. Gebt uns ein paar Jahrzehnte, um vom Öl und Gas loszukommen. Gebt uns ein paar Jahrzehnte, um die Verbrenner loszuwerden und die Häuser zu isolieren. Gebt uns ein paar Jahrzehnte, um tolle neue Kohlendioxidauffangsysteme und Wasserstoffautos zu entwickeln. Gebt uns ein paar Jahrzehnte, um die Kurzstreckenflüge durch Hochgeschwindigkeitszugstrecken und die Autos in den Städten durch U-Bahnen und Busse zu ersetzen. Gebt uns noch ein paar Jahrzehnte, um ordentlich Geld zu scheffeln. Das wird schon.“

Mit anderen Worten: „Wir sind sehr zuversichtlich, dass jemand Flügel für den Bus erfinden wird, bevor wir den Abgrund erreichen. Also Hände weg vom Steuer, sonst kommt noch jemand zu Schaden.“

Der Schaden ist aber bereits angerichtet. Und es wird immer schlimmer. Wir sind kurz davor, in bestimmten Bereichen – etwa was die Biosphärendiversität, die Versauerung der Meere oder die Bodenverschmutzung betrifft – planetare Grenzwerte zu erreichen, deren Überschreitung globale, tiefgreifende und langfristige Folgen haben wird. Sobald wir diese Grenzen überschreiten, haben wir keine Möglichkeit mehr, den Schaden zu reparieren. Weder mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln noch mit einer Technologie, die wir vielleicht irgendwann einmal erfinden.

Wenn wir diese Grenzen überschreiten, gibt es kein Zurück mehr. Dann spielt es keine Rolle, ob wir die Richtung ändern oder nicht – der Bus wird in den Abgrund stürzen.

Konzentrieren wir uns also darauf, das Lenkrad herumzureißen.

Denn das ist das Happy End, ob Sie es glauben oder nicht. Diese Kolumne soll Ihnen Hoffnung machen, deshalb sage ich Ihnen: Ich hoffe inständig, dass wir die Richtung ändern.

Vor ein paar Jahrzehnten wären solche Überlegungen noch vermeidbar gewesen. 1977 kamen vom Energieriesen Exxon bezahlte Forscher zu dem Schluss, dass die Produkte des Konzerns den Planeten unbewohnbar machen werden. Exxon wusste also Bescheid, hielt die Forschungsergebnisse jedoch unter Verschluss und verteilte Schweigegeld.

Als George H. W. Bush 1988 ins Amt gewählt wurde, galt er als der „Umweltpräsident“. Zu seinen Wahlversprechen gehörte „eine internationale Umweltkonferenz im Weißen Haus unter Teilnahme der Sowjetunion und China … Das Thema liegt auf der Hand: Es geht um die globale Erwärmung.“ 1992 aber war er strikt dagegen, dass die USA irgendwelche Anstrengungen unternehmen sollten, um die Katastrophe abzuwenden. „Der American Way of Life ist nicht verhandelbar. Punkt“, verkündete er auf der globalen Umweltkonferenz in Rio de Janeiro.

1977 hätten wir einfach ein paar Ingenieure damit beauftragen können, eine Brücke über den Abgrund zu bauen. Auch 1988 und selbst 1992 wäre das noch möglich gewesen.

Jetzt ist keine Zeit mehr für Brücken.

Uns bleibt nur noch, die Richtung zu ändern.

Dazu müssen wir ans Lenkrad gelangen. Wir müssen uns durch die Fahrgäste auf den teuren Plätzen kämpfen, das Lenkrad packen und herumreißen.

Der Bus wird sich überschlagen. Das wird sehr schmerzhaft werden. Vermutlich werden wir einige unserer schönsten Küstenstädte aufgeben müssen.

Wir müssen unsere Produktionskapazitäten so schnell wie möglich umrüsten und unsere Fabriken dazu zwingen, umweltverträgliche Technik statt billigen Schrott zu produzieren – so wie wir letztes Jahr die Produktion von Impfstoffen und Schutzmasken angeordnet haben.

Was sich die Fahrgäste auf den teuren Plätzen so denken, ist mir schleierhaft. Wenn der Bus in den Abgrund fährt, werden einige schon eines natürlichen Todes gestorben sein - vielleicht wollen sie nicht auf ihre Annehmlichkeiten verzichten, selbst wenn sie damit den Fortbestand der Menschheit riskieren.

Andere wollen aus ideologischen Gründen nicht vom Weg abweichen. Für sie ist eine Richtungsänderung moralisch verwerflich. Oder kommunistisch. Sie meinen, die einzige Möglichkeit, die Schlucht (falls es sie überhaupt gibt) zu überqueren, ist, Vollgas zu geben und darüber zu springen. Hat im Film doch auch geklappt, oder nicht?

Nur eine Richtungsänderung ist unsere letzte Hoffnung. Es geht nicht länger darum, die Katastrophe abzuwenden, sondern sie zu überleben. Uns aus den küstennahen Regionen zurückzuziehen. Notfallmaßnahmen zu ergreifen.

Es wird weiterhin Flüchtlingskrisen geben, aber wir werden sie auf humane Art lösen, anstatt Lager und Wachtürme zu bauen.

Es wird weiterhin Waldbrände geben, aber wir werden die gefährdeten Städte evakuieren und die Brände mit großem Aufwand durch kontrolliertes Abbrennen eindämmen.

Es wird weiterhin Überflutungen geben, aber wir werden die betroffenen Städte aus der Gefahrenzone verlegen.

Es wird weiterhin Zoonosen geben, da viele Tiere ihren schwindenden Lebensraum verlassen müssen, aber wir werden die Erfahrungen, die wir mit COVID gemacht haben, zu nutzen wissen.

Das Artensterben wird nicht aufhören, aber wir werden so viele Spezies wie möglich retten und den Erhalt der Lebensräume der Tiere, unserer „horizontalen Brüder und Schwestern“ (John Muir), als einen Betrag zum Umweltschutz begreifen.

Wir müssen das Lenkrad herumreißen. Der Bus wird sich überschlagen. Es wird Verletzte geben. Es wird schrecklich.

Aber wir werden nicht tot am Boden der Schlucht liegen.

Wir machen den Bus wieder flott. Besser als vorher. Wir stellen ihn wieder auf die Räder, heuern einen besseren Fahrer an und überlegen uns ein besseres Ziel.

Das ist das Happy End. Das ist unsere Hoffnung für die Zukunft.

Aber dazu müssen wir das Lenkrad herumreißen. Sind Sie bereit?

Dann los.

 

Cory Doctorow ist Schriftsteller, Journalist und Internet-Ikone. Mit seinem Blog, seinen öffentlichen Auftritten und seinen Büchern hat er weltweit Berühmtheit erlangt. Seine Romane sind im Shop erhältlich.

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