1. August 2016 1 Likes

Sancta Simplicitas!

Warum wir den Galatern mal wieder einen Brief schreiben sollten

Lesezeit: 3 min.

Mein Religionslehrer hieß Konrad; er besaß ein ebenso nachsichtiges wie menschenfreundliches pädagogisches Gemüt. Wir behandelten in der Oberprima bei ihm ein halbes Jahr lang das Thema „Galaterbrief“; das ist der Brief, den der gelernte Zeltmacher und Apostel Paulus an die Galater schrieb. Die Galater – dem gesagt, dem es entfallen ist – waren Kelten, die ein pointenlüsternes Schicksal nach Zentralanatolien verschlagen hatte. In diesem Brief plaudert der Apostel aus seinem Leben, erzählt unter anderem davon, wie er sich mit Alt-Apostel Simon Petros gezankt hat, und entwickelt seine heidenchristliche Position: Der Mensch ist frei! Frei auch von alten Riten wie Beschneidungsvorschriften und Speiseverboten. Schwein gehabt, werden sich die bevorhauteten Christen jener frühen Jahre gedacht haben; guter Mann, dieser Saulus Paulus.

Die Klausur im Vorabitur bezog sich auf den „Galaterbrief“.

Im Abitur selbst schließlich war der „Galaterbrief“ das Thema.

Als hätten wir es kommen sehen.

Hätten wir es kommen sehen können? Gab es von Konrads Seite aus Zeichen, Hinweise, Winke? Die gab es in rauen Massen. Traute er uns – übrigens sehr zu Recht – ein breiteres Spektrum an propädeutischem Sach- und Fachwissen im altehrwürdigen Bereich der Theologie nicht zu? War er nicht nur nachsichtig, sondern auch vorausschauend? Gibt es eine nachsichtige Vorschau? Eine vorausschauende Nachsicht? Jedenfalls: Wir bestanden alle glänzend (bis auf den einen beklagenswerten Mitschüler, der kalkuliert hatte: Wenn der Galaterbrief schon ein ganzes Halbjahr gefüllt hat und dann auch noch Gegenstand des Vorabiturs gewesen ist, wird Konrad uns kaum ein und dasselbe Thema auch im Abitur vorlegen. Besagter Mitschüler hatte deswegen allerlei anderes theologisches Brimborium gelernt, den Galaterbrief aber weislich ausgespart. Sancta Simplicitas!).

Hinter uns liegen die tollen Tage der Fußball-Europameisterschaft. Deutschland ist völlig verdient Europameister der Herzen geworden; irgendeine AfD-Frontfrau hat sich daraufhin nicht entblödet, irgendeine AfD-frontfrautypische Blödelei zu facebooken; ansonsten die Plagen unserer Zeit. Alles geht seinen Gang. Zeit, sich noch einmal an Lehrer Konrad zu erinnern.

Sagte ich schon, dass Lehrer Konrad so seine eigene Auffassung von der Evolutionstheorie hatte? „Wenn ihr vom Affen abstammen wollt – bitte! Ich nicht.“

Ich fand das damals super. Das musste man erst einmal bringen, sich hinzustellen und von wissenschaftlichen Theorien für unabhängig zu erklären. „Wenn ihr der Schwerkraft unterliegen wollt – bitte! Mit mir nicht.“ (Gravitationstheorie) „Wenn ihr Bummler und Faulpelze euch nicht schneller als das Licht bewegen können wollt – bitte! Ich reise so schnell, wie ich will.“ (Relativitätstheorie) Freie Fahrt für freie Bürger eben. Klimawandel? Eine Erfindung der Lügenpresse, um das gute Gewissen deutscher Menschen zu quälen. „Die AfD … macht … Schluss mit der ‚Klimaschutzpolitik‘ … Die Wahrnehmung des CO2 nur als Schadstoff werden wir beenden und … Klimaschutz-Organisationen werden nicht mehr unterstützt“, so steht es verheißungsvoll im Grundsatzprogramm der Alternative für Deutschland, einer Vorlage zum Bundesparteitag am 30.4./1.5.2016.

Zurück zu Lehrer Konrad. Es waren bunte Jahre; ich las „Perry Rhodan“ und „Atlan“, „Spirou und Fantasio“, Gogol und Dostojewski, und noch in den düstersten Winkeln der russischen Herzverfinsterungsromane gloste doch ein Fünklein Vernunft. Lehrer wie Meister Konrad, dachte ich damals still vergnügt, Menschen, die glauben, ihre Zugehörigkeit zu diesem oder jenem Stamm obliege einer privatistischen Willensentscheidung, haben die Sintflut noch vor sich. In Zukunft wird das Licht der Vernunft heller strahlen.

Aber siehe da, für manchen scheint dieses Licht zu grell – oder, um mit dem Apostel Paulus zu sprechen: „Ihr unvernünftigen Galater, wer hat euch verblendet?“ (Gal 3,1) Manche meinen, sie brauchten die Augen nur ganz fest zuzukneifen vor der unzumutbaren Realität, dann werde eben diese Realität sich schon eines Besseren besinnen und sich gefälligst ändern.

Sancta Simplicitas!

Vielleicht sollten wir den Galatern unserer Tage gelegentlich einen neuen Brief schreiben: „Lasst uns nicht müde werden, das Gute zu tun; denn wenn wir darin nicht nachlassen, werden wir ernten, sobald die Zeit dafür gekommen ist.“ (Gal 6,9) Zukunft heißt nämlich vor allem, sich der Gegenwart zu stellen und von diesem Hier und Heute aus ein wenig über sich hinaus zu denken.
 

Hartmut Kasper ist promovierter Germanist, proliferanter Fantast und seines Zeichens profilierter Kolumnist. Alle Kolumnen von Hartmut Kasper finden Sie hier.

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