20. August 2018

Vorwärts nimmer, rückwärts immer

Zygmunt Bauman und das Retrotopia unserer Tage

Lesezeit: 4 min.

Des Nachmittags, so gegen 15:10 Uhr, wenn das Tagwerk getan ist, setze ich mich in meinen Ohrensessel; ich reiche mir Gebäck und Tee, Kürbis-Schokoschnittchen zum Beispiel oder irgendwas mit Kokosgestöber und Marzipanstreusel-Pomp, denn das ist lecker.

Sitze ich also da im Ohrensessel, knabbere, knuspere, nippe und lese.

Was denn auf dem Coffee Table liegt? Was ich lese, will man wissen?

Gerne Utopisches, sonst wäre ich hier ja wohl auch fehl am Platz:

„Tibor“ zum Beispiel, das ist: ein athletischer Millionär, der im Dschungel abstürzte und nun in einer Hütte lebt, zusammen mit dem Gorilla Kerak und den zwei Äffchen Pip und Pop – darauf muss man erst mal kommen. Geschichten eben, wie sie nur das Leben auszudenken vermag und dessen treuer Protokollführer, der Utopist Hansrudi Wäscher.

Oder den guten alten Scheer und dessen Uto-Krimi „Eliteeinheit LUNA PORT“, ein älteres Leihbuch aus dem Jahr 1958, das man wohl seinerzeit vergessen hat, fristgerecht in die Leihbuchhandlung „MARTHA JÜSSEN Schreibwaren – Spirituosen – Rauchwaren“ in Bad Godesberg zurückzutragen. Da spricht Thor Konnat, Agent in der von Scheer befehligten Geheimen Wissenschaftlichen Abwehr: „Ich hatte ein Gehirn, zu dem man im Hauptquartier ‚tot‘ sagte.“ Was für ein Satz, was für ein Scheer.

Zurzeit aber fesselt mich viel mehr als Tibor oder Thor Konnat das bei Suhrkamp erschienene Werk „Retrotopia“ von Zygmunt Bauman. Der Umschlag des Buches ist gediegen schwarz; darauf ist eine weiße Uhr zu sehen. Es hat, so auf den ersten Blick, etwas von einem alten Stummfilm, mit Harold Lloyd zum Beispiel oder Buster Keaton.

Jedoch: das Ziffernblatt ist entstellt; die Stunden stehen falsch; die Uhr läuft rückwärts.

Das Werk handelt davon, wie nun, ziemlich genau ein halbes Jahrtausend nach Thomas Morus‘ „Utopia“ („De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia“ – also: „Vom besten Zustand des Staates und der neuen Insel Utopia“), der humanistische Ansatz des utopischen Denkens sich in sein Gegenteil verkehrt habe: „Die Zahl der Touristen, die das fremde Land der Zukunft erkunden wollen, ist rapide gesunken und beschränkt sich inzwischen auf die optimistischsten und abenteuerlustigsten (und manche meinen: die unverantwortlichsten und sorglosesten) unter unseren Zeitgenossen. Die Anzahl derer, die erwarten und hoffen, künftig angenehmere Erfahrungen zu machen als in den von ihnen bereits durchlebten Gegenwarten, scheint sogar noch rascher zu sinken ‒ neue Science-Fiction-Romane und -Filme müssen immer öfter der Rubrik ‚Horror‘ zugeordnet werden.“

So ist das. War in den 1960er-Jahren das „All together now“ der Beatles noch der vielstimmige Soundtrack der Epoche, saßen auf der Brücke des schnellen Raumkreuzers Orion oder der Enterprise die Sohne und Töchter sämtlicher Kulturen der Erde einträchtig beieinander, folgte eine geeinte Menschheit einem Perry Rhodan ohne Grenzkontrolle zu den Sternen, werden heute lieber wieder Nationalhymnen geschmettert, und wehe jedem, der sich erdreistet, dieselben nicht mitzuschmettern, zumal wenn des großen Bruders Fernsehauge auf ihm ruht. Ja, mir scheint, so viel Geschmetter war selten.

Zurück geht es, sagt Bauman, zurück wird sich gesehnt: zurück zum kuscheligen Stammesfeuer, zurück zur sozialen Ungleichheit, am liebsten gleich ganz zurück in den Mutterleib, wo manches schwappt, aber keine Flüchtlingswelle hinein.

Etwas Neues? Bewahre! Das Schlagwort der Retrotopisten heißt „Again“; ihr Lustwäldchen ist jenes Früher, wo die Rente noch sicher, überhaupt alles noch gut, wenn nicht sogar besser war, jedenfalls im Rückblick und wenn man sich dazu den Hals rechtsum verrenkt.

Natürlich wissen wir, dass früher ganz und gar nicht alles besser war, die Luft nicht besser, die Urlaubsfahrten nicht länger, die Verbrecher und ihre Verbrechen nicht weniger und nicht weniger widerlich als heute.

Zugegeben: Ich werde auch nicht gerne betuppt, betrogen, abgezockt. Aber mir sind Drogenbarone und alle Handlanger, die ihre Waren unter die Leute bringen, sowieso suspekt, ganz gleich, ob sie das Zeug am Bahnhofsvorplatz verticken oder als Filialleiter von Jacques‘ Wein-Depot. Auch verstehe ich nicht, warum mir Mörder, Schläger, Kinderschänder oder Vergewaltiger mehr oder weniger sympathisch sein sollen, je nachdem, ob sie zur Tatzeit einen zitronengelben Staatsangehörigkeitsausweis vorlegen können oder bloß eine befristete Aufenthaltsgenehmigung.

Dabei sind alle unsere Aufenthaltsgenehmigungen auf diesem Planeten nur befristet, und auch der große Zygmunt Bauman ist nun tot, einer der bedeutendsten Gesellschaftswissenschaftler unserer Zeit. In Polen geboren, als Jude vor den Deutschen in die Sowjetunion geflohen, später nach England ausgewandert, weiß er, wovon er spricht, wenn er uns die Gründe für Migration erläutert.

Mit „Retrotopia“ hat er ein leider sehr überzeugendes Buch vorgelegt, ein hellsichtiges und dadurch aufklärerisches Werk, ein Plädoyer für utopisches Denken, das sich der Gegenwart stellt und den Mut aufbringt, in Richtung Zukunft zu denken.

War das nicht einmal unverzichtbarer Teil des Abenteuers Science-Fiction?

Und wir Leser?

Schön haben wir es hier! Behaglich sitzen wir in den Ohrensesseln unserer Epoche und ihrer restaurierten Grenzen; es gibt Marzipanstreusel-Pomp, den gibt es anderswo nicht, und über die Frage, warum die einen Marzipan haben und den Pomp, die anderen weder Pomp noch Marzipan, sondern gelegentlich nicht einmal Wasser oder Brot, denken wir nicht eben gerne nach.

Das Titelbild hat Recht: Die Zeit hat sich, wie‘s scheint, verlaufen. Wir hätten es nötig, sie wieder auf Kurs zu bringen. Ein anderer Weg als der in die Zukunft steht uns nicht offen.

 

Hartmut Kasper ist promovierter Germanist, proliferanter Fantast und seines Zeichens profilierter Kolumnist. Alle Kolumnen von Hartmut Kasper finden Sie hier.

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