Das Exposom schlägt zurück
Zunehmende Mutationen im menschlichen Genom zwingen zum Handeln
Anders als uns in der Schule beigebracht wurde, stammt unser Erbgut nicht zu jeweils fünfzig Prozent von Mutter und Vater. Sondern die DNS jedes Neugeborenen weist zu einem individuellen Prozentsatz auch neue, zufällige Mutationen auf, die spontan und ohne bestimmte Ursache auftreten. Bei jedem von uns enthält die erbliche (Keimbahn-)DNS zwischen achtzig und hundert Veränderungen in den Genen.
Grund dafür ist die Instabilität im Genom der elterlichen Eier und Spermien. Von unserer Mutter erhalten wir durchschnittlich fünfzehn bis zwanzig „Schreibfehler“, vom Vater dreißig bis sechzig (wobei ältere Väter eine höhere Instabilität der DNS besitzen, da bei der Samenproduktionen im Lauf der Zeit immer mehr Mutationen hinzukommen). Nun betragen die ins Neugeborene übertragenen Veränderungen lediglich 0,001 Prozent seines Genoms. Doch sie sind, wie der Genetiker Eric J. Topol (in: John Brockman (Hrsg.): „Worüber müssen wir nachdenken?“, 2014) schreibt, nichtsdestotrotz sehr ernst zu nehmen. Denn da sie nicht der natürlichen Selektion unterliegen, ist es eher wahrscheinlich, dass sie schädliche Auswirkungen haben. So sehen Wissenschaftler in letzter Zeit immer mehr neue Fälle von Krebs, die auf eine abweichende, genomisch instabile DNS zurückzuführen sein dürften. Der Trend zu älteren Vätern trägt das Seine zu dieser Entwicklung bei.
Ein ganzer Forschungszweig beschäftigt sich daher mittlerweile mit der Frage, warum die genomische Instabilität mit dem Alter zunimmt und weshalb von Jahr zu Jahr bei mehr Patienten Krebs diagnostiziert wird. Selbst unter Berücksichtigung des immer höheren Alters, das Menschen erreichen (wodurch das Krebsrisiko steigt), wurde ein erhöhtes Vorkommen bei sieben der häufigsten Krebsarten festgestellt.
Wie nicht nur Topol vermutet, könnte ein bedeutender Grund hierfür die Veränderung unserer Umwelt sein. Wir alle kommen beispielsweise immer häufiger in Kontakt mit stärkerer Strahlung – etwa die vom globalen Treibhauseffekt ausgehende Wärmestrahlung oder die ionisierte Strahlung aus bildgebenden medizinischen Verfahren. Hinzu kommt die Belastung von Nahrung und Trinkwasser durch Schwermetalle, Kunststoffpartikel, Medikamentenrückstände und chemische Abfälle. Kurzum, als Hauptverdächtiger rückt mehr und mehr das Exposom in den Blickpunkt. Unter diesem aus „Exposure“ und „Genome“ zusammengesetzten Begriff versteht man die Gesamtheit aller nicht-genetischen, inneren und äußeren Umwelteinflüsse, denen jemand lebenslang ausgesetzt ist.
Komplementär zur Wissenschaft der Epigenetik führt die Exposomforschung zum Szenario, dass Krankheiten, auch wenn ihnen eine genetische Disposition zugrunde liegt, von Umweltfaktoren ausgelöst (getriggert) werden. Besonders beunruhigend erscheint hierbei, dass die Instabilitäten im Genom in einer – im Vergleich zur Millionen Jahre benötigenden Evolution – äußerst kurzen Zeitspanne auftreten. Topol (der bereits eine genetische Rückentwicklung des Homo sapiens am Horizont sieht) schlägt vor, dass neben eingehender Untersuchung der Ursachen früher oder später auch ein künstlicher Eingriff in die menschliche Keimbahn nötig sein könnte, um unerwünschte Mutationen auszusieben und gewünschte beizubehalten. Hier stellt sich aber wieder die alte Frage: Wer entscheidet, welche Veränderung „gut“ oder „schlecht“ ist? Und wie lange müssen Langzeitfolgen genetischer Eingriffe beobachtet werden, um als „unbedenklich“ zu gelten?
Es ergibt sich also ein ähnliches Dilemma wie beim „Geo Engineering“, dem technischen Eingriff in die Atmosphäre und Geophysik unserer Erde, um die Folgen der Klimaerwärmung einzudämmen: Ist eine solche, künstliche Veränderung unsere letzte Chance, bevor es zur globalen Katastrophe kommt? Oder macht sie den jetzigen Zustand nur noch schlimmer beziehungsweise ruft eine anders geartete, ärgere Katastrophe herbei?
In beiden Fällen gäbe es durchaus dieselbe Alternative: eine relativ kleine Lebensumstellung beim Großteil der Weltbevölkerung. Der Verzicht auf ein „Noch mehr“ an Energienutzung, Ressourcenverbrauch und synthetischen Inhaltsstoffen (besser noch eine wenigstens geringe aber dafür internationale Reduktion) würde sowohl den Ausstoß treibhauseffektiver Gase als auch potenziell genomschädlicher Umweltgifte eindämmen und einen Umkehrtrend einläuten – ganz ohne risikobehaftete Experimente an unserem gemeinsamen Planeten oder unserer Erbinformation. Denn eines ist klar: Wenn wir auf Ebene der Gene und des Stoffwechsels mit dem Exposom verbunden sind und dieses immer stärker negativ verändern … schädigen wir uns früher oder später selbst.
Uwe Neuhold ist Autor, bildender Künstler, Medien- und Museumsgestalter mit Schwerpunkt auf naturwissenschaftlichen Themen. Alle Kolumnen von Uwe Neuhold finden Sie hier.
Kommentare
Ist es wirklich ein Schaden wenn wir uns negativ verändern? Ist es nicht viel mehr eine Chance aus einer negativen Entwicklung eine für den Menschen und somit für unsere Welt positive entstehen zu lassen?
Wie schon oben erwähnt, wer entscheidet ob eine Entwicklung gut oder schlecht sein wird? Doch nur der kommende Mensch oder seine Weiterentwicklung zu was auch immer!
Zitat: "Anders als uns in der Schule beigebracht wurde, stammt unser Erbgut nicht zu jeweils fünfzig Prozent von Mutter und Vater."
In einem Artikel aus dem Jahr 2001 stand einmal, dass gewöhnlich der Verwandtschaftsgrad fast aller Geschwister zwischen 25 und 75 Prozent liegen dürfte (Schätzung des Geschwisterforschers F. J. Neyer).