18. September 2017 1 Likes

Erwarte das Unerwartete!

Was wir aus bisherigen Fehleinschätzungen für die Zukunft lernen können

Lesezeit: 6 min.

Es gibt in der westlichen Kultur einen äußerst interessanten Zwanzig-Jahres-Rhythmus aus unerwarteten Ereignissen. Machen wir zur Probe eine Zeitreise um einhundertzwanzig Jahre zurück ins Jahr 1897: Was hätten damalige Europäer wohl auf die Frage geantwortet, wie sich die nächsten Jahre entwickeln würden?

Unser Kontinent wurde damals weitestgehend von Monarchien beherrscht, deren innere Stabilität und zunehmender Reichtum von Kolonien, technischer Innovation und Industrialisierung angetrieben wurden. Entsprechend optimistisch hätten sich seine Bewohner über die nahe Zukunft geäußert, denn man durfte davon ausgehen, dass sich wenig ändern würde.

Zeitsprung zwanzig Jahre vorwärts ins Jahr 1917: Der Großteil Europas liegt in Trümmern, die Katastrophe des „Großen Krieges“ vernichtete weite Teile der Wirtschaft und des sozialen Lebens, die Königshäuser der Entente-Mächte sind gefährdet und werden sehr bald verschwinden. Damit hatte keiner gerechnet und man fragt sich, wie es zu einer solch blutigen Überraschung kommen konnte.

Hätte man die Menschen da abermals zu ihrer Zukunftserwartung gefragt, wäre die Prognose wohl düsterer ausgefallen: das Ende des Krieges ungewiss, die Infrastruktur auf unabsehbare Zeit am Boden, vielleicht der Beginn des westlichen Niedergangs?

Ein weiterer Zeitsprung, diesmal ins Jahr 1937: Europa hat sich erstaunlich rasch vom Krieg erholt, nach der Wirtschaftskrise der frühen Dreißigerjahre brummen die Motoren wieder, die USA verzeichnen einen Export-/Importhöhepunkt, Autos und Eisenbahnen rattern übers Land, in den Lüften schweben Zeppeline und Flugzeuge, sogar in Deutschland und Österreich stehen viele wieder in Lohn und Brot (wenn auch in der Rüstungsindustrie). Die Science-Fiction in Gestalt des großen Olaf Stapledon versteigt sich im Epos „Die ersten und die letzten Menschen“ (1930) zur gewaltigen Fehlprognose, dass Deutschland aus den Fehlern gelernt hätte und zu einem engagierten Garant des politischen Friedens würde. Dazu ertönt wildfröhliche Musik aus Frankreich, England und Amerika aus den Volksempfängern. Die Zukunftsperspektive? Rosig, definitiv rosig.

Schnitt und zwanzig Jahre weiter, nun schreiben wir 1957 – und kopfschüttelnd blickt man wieder mal auf die eigene jüngere Geschichte. Wie konnte es nur passieren, dass sich der Kontinent in einen zweiten Weltkrieg stürzt? Einen weitaus grausameren, technisch höher gezüchteten, internationaleren Krieg, der zig Millionen Tote und die Vernichtung und Vertreibung der europäischen Juden mit sich brachte. Das kam unerwartet, auch wenn man es im Nachhinein betrachtet hätte ahnen können.

Mittlerweile sind die zerstörten Städte zwar zum Großteil wieder aufgebaut, die Besatzungsmächte abgezogen und „niemand hat die Absicht, [in Deutschland] eine Mauer zu errichten“ (Walter Ulbricht, 1961). Aber ist dem Frieden zu trauen, wo doch die Erfahrung anderes lehrt? Gerade ging der erste Indochina-Krieg zu Ende, schon rüsten die Mächte des „Kalten Kriegs“ ihr Nukleararsenal auf. Vielleicht ahnt man unterschwellig schon die Kubakrise 1962, jedenfalls fällt die neuerliche Antwort in puncto Zukunftserwartung gedämpft bis ängstlich aus. Früher oder später muss es zum Atomkrieg kommen, man wird das mühsam Erreichte wieder verlieren – und diesmal völlig.

Und dann ist es zwanzig Jahre später, 1977, und es scheint politisch überraschend gut gegangen zu sein. Weder Kuba noch Vietnam oder der Prager Frühling weiteten sich zum Weltkrieg aus, Goldpreis und Aktienmarkt entwickelten sich stabil, es werden Autos, Häuser und Fabriken gebaut wie noch nie. Doch etwas Neues trübt die Freude: Zum einen kletterte seit dem Ölpreisschock 1973 der Rohölpreis auf Rekordniveau. Zum anderen machen die Wissenschaftler des Club of Rome mit den „Grenzen des Wachstums“ (1972) und der 1977 publizierten Studie „Global 2000“ klar, dass die Rohstoffe des Planeten bald zur Neige gehen. Überhaupt die Umwelt! Rachel Carson veröffentlichte bereits 1962 „Der stumme Frühling“ und auch die Science-Fiction-Autorin Kate Wilhelm malt uns 1977 in „Hier sangen früher Vögel“ eine düstere Öko-Zukunft. Der Ausblick auf das Ende des 20. Jahrhunderts? Wenn uns der Konflikt zwischen Ost und West nicht doch noch den Dritten Weltkrieg beschert, gehen uns die lebenswichtigen Ressourcen aus und das war’s dann.

Doch siehe da: Zwanzig Jahre später ist wieder alles eitel Wonne. Wir schreiben das Jahr 1997, und die Wälder stehen noch, man fand riesige neue Lager fossiler Rohstoffe, dank Computer und Internet boomt die Wirtschaft wie noch nie – und die größte Überraschung von allen: Die Sowjetunion ging mitsamt der Berliner Mauer unter! Weder Zukunftsforscher noch Geheimdienste hatten das kommen sehen. Nun schwenkt das Pendel endgültig in die andere Richtung, Francis Fukuyama prophezeit das „Ende der Geschichte“, und der ganze Westen bereitet sich auf ein goldenes „Zeitalter des Wassermanns“ vor, in dem Frieden, Freude und Freiheit herrschen werden.

Heute jedoch, im Jahr 2017, wissen wir, dass es wieder mal ganz anders kam: Eine Handvoll verrückter Religionsfundamentalisten auf der einen und eine Generation geldgieriger Finanzspekulanten auf der anderen Seite trieben uns nach 2001 in die größte politische und wirtschaftliche Weltkrise seit hundert Jahren. Der große Katzenjammer hat uns erfasst und eine weinerliche „Generation Y“ wirft ihrer Elterngeneration vor, es so richtig verkackt zu haben: keine Jobs, keine saubere Umwelt, kein Frieden weit und breit – und über allem zwei Megaüberraschungen namens Brexit und Trump. Wie hat es – wieder mal – nur so weit kommen können?

Aktuelle Umfragen und Stimmungsbarometer zeigen ein entsprechend nüchternes Bild: Der Großteil der Befragten rechnet damit, dass der Terror bleibt, die Flüchtlinge mehr werden, gute Jobs – trotz wiederkehrenden Wirtschaftswachstums – kaum noch zu finden sind, die Umweltverschmutzung zunimmt und der Klimawandel zu Katastrophen führt.

Beste Gründe also, um optimistisch zu sein und sich auf die Zukunft zu freuen! Denn wie uns die obigen, an Fehleinschätzungen reichen einhundertzwanzig Jahre zeigen, kommt es 1. immer anders und 2. als man denkt.

Vergessen wir nicht, dass die Gewalt global betrachtet abgenommen hat. Die Kriminalität ebenso. Trotz des verbalen Säbelrasselns zwischen Russland, China und den USA sind sie wirtschaftlich derart miteinander verflochten, dass niemand Interesse an einem Dritten Weltkrieg haben kann. Selbst bei der Zunahme an Terroranschlägen müssen wir uns fragen, inwieweit hier a) die mediale Ausbeutung zu unproportional höherer Wahrnehmung führt und b) ob wir im mathematischen Vergleich der Todeszahlen nicht eher vor dem Autoverkehr Angst haben sollten. Auch die in Rekordmengen zu uns kommenden Flüchtenden werden uns weder Häuser noch Jobs noch Essen wegnehmen. Im Gegenteil – die ach so beklagten Euromillionen an Ausgaben für Flüchtlinge kann man auch so sehen: als verdeckte Subvention für die heimische Wirtschaft, da das Geld erstens gegenüber dem EU-Fiskalpakt als „Sonderausgabe“ gilt und es, zweitens, fast direkt auf das Konto der Unternehmen fließt (auch wenn es zynisch klingt: Noch nie machten Containerbauer und Vermieter von Notunterkünften so gute Geschäfte, und auch das ohnehin geringe Taschengeld der Asylwerber fließt letzten Endes zu den lokalen Anbietern von Essen, Trinken, Kleidung und Mobilfunk).

Nach zehn Jahren ökonomischer Krise zeigen die Wirtschaftsprognosen zumindest eine Erholung an. Auch die Arbeitslosigkeit sinkt, wenn auch moderat, europaweit. Dass wir die Klimaerwärmung nennenswert drosseln oder gar aufhalten können, bezweifeln zwar selbst die größten Optimisten. Aber mit jeder Reduktion von Energiebedarf und Treibhausgasen können wir uns etwas Zeit kaufen – Zeit zum Entwickeln nachhaltiger Technologien und langfristiger Überlebensstrategien.

Mark Twain schrieb in seiner Autobiografie: „Das Gemeine an Überraschungen ist, dass sie auch dann eintreten, wenn man nicht mit ihnen rechnet.“ Sollten also keine gemeinen Überraschungen passieren, werden wir im Jahr 2037 – ganz im Gegensatz zu unseren heutigen Erwartungen – relativ gut da stehen. Brenzlig wird es jedoch, wenn wir uns anschließend zu sehr in Sicherheit wiegen und überoptimistisch in die Zukunft blicken.

Denn dann passiert bis 2057 garantiert eine fette Katastrophe.
 

Uwe Neuhold ist Autor, bildender Künstler, Medien- und Museumsgestalter mit Schwerpunkt auf naturwissenschaftlichen Themen. Alle Kolumnen von Uwe Neuhold finden Sie hier.

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.