Meine bezaubernde Wassercousine
Sie ist halb Tier, halb Pflanze – und eng mit uns verwandt
Wie die meisten wissen, entstammen alle Tiere – einschließlich uns Menschen – gemeinsamen Ur-Einzellern, die sich vor Jahrmilliarden wahrscheinlich im schwefeligen Schlamm der Erde entwickelten. Das Teamwork der Gene steuert seither (in Partnerschaft mit Umwelteinflüssen) das Aussehen und die Funktionsweise eines Körpers, egal wie komplex oder einfach er sein mag.
Wir haben uns seit Charles Darwin allmählich von dem Schock erholt, dass zu unserer Verwandtschaft alle möglichen Affenartigen zählen und wir mit dem Schimpansen rund 99 Prozent des Erbguts teilen. Kürzlich aber, als wieder mal meine Gorillabrüder und Makakenonkels auf Tee zu Besuch waren, erfuhr ich, dass wir eine äußerst interessante Cousine haben, von der wir lange nichts wussten. Man kennt das ja: Ein Teil der Familie zieht aufs Land, dann gibt’s eine Zeit lang noch telefonischen Kontakt, irgendwann liest man nur noch manchmal was auf Facebook – und plötzlich sind sechshundert Millionen Jahre vergangen.
Unsere nun wieder aufgetauchte Cousine jedenfalls heißt Actinaria. Sie hat das Land noch nie gemocht und bevorzugt definitiv Salzwasser. Sie hat sich daher schon vor langer Zeit in die Tiefen des Meeres zurückgezogen und verbringt dort das ganze Leben allein (ist das nicht furchtbar?). Obwohl sie zur gattungsreichen Ordnung der Hexacorallia innerhalb der Blumentiere (Anthozoa) gehört, ist sie wohl nicht so der Gesellschaftstyp.
Dabei hat sie eine tolle Form – sowohl schlank als auch muskulös – und ein geradezu ätherisches, durchscheinendes Äußeres. Kein Wunder, sie besitzt ja gar kein Skelett, die Arme. Und wenn ich Ihnen erzähle, wie sie sich fortbewegt, werden Sie es mir kaum glauben: Sie kriecht, wann immer sie sich nicht gerade irgendwo festkrallt, auf ihrer Fußscheibe dahin. Sie ist zwar noch im Wachstum, wird aber bis zu 150 Zentimeter groß werden. Und ach ja, da sind dann noch ihre … Tentakel (anders kann man ihr Dutzend Arme nicht nennen, auch wenn sie noch so transparent und elegant sein mögen). Also um es kurz zu machen: Es handelt sich um eine Seeanemone. Und sie hat zwar kein Gehirn, aber dafür viel innere Werte.
Denn sie besitzt, wie der Evolutionsbiologe Ulrich Technau 2014 entdeckte, eine ähnlich komplexe „Gen-Landkarte“ wie die Fruchtfliege oder andere tierische Modellorganismen wie zum Beispiel Sie und ich. Fliegen, Menschen und Seeanemonen haben also nicht nur ähnliche genetische Mechanismen, sondern offenbar auch gemeinsame Vorfahren.
Zahlreiche im letzten Jahrzehnt durchgeführte Genomsequenzierungen von Menschen und Tieren zeigen, dass einfache Organismen erstaunlicherweise über ein ähnlich komplexes Genrepertoire verfügen wie „höhere“. Es sind also nicht die An- oder Abwesenheit einzelner Gene, die über Unterschiede in der Formkomplexität entscheidet – sondern eher genetisch steuernde Netzwerke.
Deren Komplexität wiederum wird durch die Dichte und Verteilung regulatorischer Sequenzen im Genom bestimmt, die man Enhancer und Promotoren nennt und an denen sich Transkriptionsfaktoren mit der DNA auf spezifische Weise binden können. Wenn man die Gene mit Wörtern einer Sprache vergleicht, ist die Genregulation sozusagen deren „Grammatik“.
Meine Cousine, die Seeanemone, ist aber noch für weitere Überraschungen gut: Ihre Proteinregulation verläuft nämlich mittels microRNAs, wie im Fachjournal Genome Research kürzlich beschrieben wurde. Solche microRNAs sind kurze RNA-Moleküle, die an Ziel-RNAs binden und deren Translation beeinflussen. Viele Tiere verfügen über hundert bis zweihundert microRNAs, wir Menschen sogar über mehr als tausend. In der Seeanemone fand man jedoch ein Protein, das bei Pflanzen (!) essenziell für die Biogenese der microRNAs ist und bisher bei keinem tierischen Organismus beobachtet wurde.
Diese Entdeckung zeigt uns den ersten qualitativen Unterschied zwischen den Nesseltieren und „höheren“ Tieren und beweist, dass sich wichtige Aspekte der Genregulation sowohl bei Tieren als auch Pflanzen zwar unterschiedlich, aber doch kompatibel entwickelten. Sie geben einen Hinweis, wann und wie microRNAs überhaupt entstanden sein könnten, ohne die auch unser Stoffwechsel und überhaupt die ganze körperliche Entwicklung anders ablaufen würden. Tragen vielleicht auch wir Affen und Menschen noch pflanzliche Relikte in uns? Könnten wir uns dereinst wieder zu wasserbewohnenden oder Photosynthese betreibenden Lebewesen entwickeln?
Mein Schimpansenvetter und ich haben jedenfalls beschlossen, die nächste Tea-Time am Meer abzuhalten und sind schon ganz gespannt, wie sich Cousinchen Actinaria so gemacht hat. Das Händeschütteln wird allerdings etwas knifflig werden … erwähnte ich schon ihre Nesselfäden?
Uwe Neuhold ist Autor, bildender Künstler, Medien- und Museumsgestalter mit Schwerpunkt auf naturwissenschaftlichen Themen. Alle Kolumnen von Uwe Neuhold finden Sie hier.
Kommentare