4. April 2016 1

Pimp my Wunderkind

Geht die Ära naturwissenschaftlicher Jung-Genies zu Ende?

Lesezeit: 6 min.

Ausgerechnet ein 14-Jähriger scheint geschafft zu haben, was renommierten Geologen bisher versagt blieb: ein verlässliches Prognosemodell für Erdbeben zu entwickeln. Mithilfe seines mathematischen Systems hatte Suganth Kannan im Juli 2014 sogar das einen Monat später folgende schwere Erdbeben in Kalifornien vorhergesagt. Er ist damit ein aktuelles Beispiel für wissenschaftliche Wunderkinder – und möglicherweise Vertreter einer aussterbenden Art.

Der arabische Gelehrte Avicenna (ca. 980–1037) konnte als Zehnjähriger den Koran auswendig und studierte bereits mit 13 Medizin. Rene Descartes (1596-1650) präsentierte mit 22 sein mathematisch-physikalisches Werk Musicæ compendium. Blaise Pascal (1623–1662) schrieb im Alter von 9 Jahren eine Abhandlung über das Schwingungsverhalten von Körpern. Maria Gaetana Agnesi (1718–1799) verfasste als 9-Jährige eine einstündige lateinische Rede, in der sie das Recht der Frau auf Bildung einforderte. Jean-Philippe Baratier (1721–1740) schrieb mit 10 Jahren geisteswissenschaftliche Werke. Der Philosoph Jeremy Bentham (1748–1832) konnte mit vier Jahren Latein und kam mit 12 aufs Queen’s College in Oxford. Der Mathematiker Carl Friedrich Gauss (1777–1855) wiederum korrigierte schon als 3-Jähriger die Buchhaltung seines Vaters und der schwedische Botaniker Elias Magnus Fries (1794–1878) kannte bereits mit 17 mehr als 300 Spezies und schrieb seine Doktorarbeit mit 22.

Worin sich jugendliche Genies biologisch von ihren „normalen“ Altersgenossen unterscheiden, scheint ein Neurologenteam um Andrew Kayser von der University of California herausgefunden zu haben: Sie verglichen in ihrer Anfang 2015 durchgeführten Studie das Experimentierverhalten von Teenagern und unterzogen jene, die am besten abschnitten, einem MRT-Gehirnscan. Wie sich zeigte, war bei diesen der präfrontale Cortex, der für strategisches Denken und Entscheidungen zuständig ist, wesentlich stärker mit zwei anderen einflussreichen Hirnregionen verknüpft, dem Putamen und der hinteren Inselrinde. Diese stärkere Verbindung vermuten die Wissenschaftler als „Ursprung des Forscherdrangs“.

Albert Einstein meinte einmal, wer bis zu seinem 30. Lebensjahr noch keinen wesentlichen Beitrag zur Wissenschaft geleistet hätte, würde dies nie mehr tun. Er selbst war das beste Beispiel dafür (mit 26 veröffentlichte er seine Spezielle Relativitätstheorie), und auch die Liste damaliger Wunderkinder – jene aus Kunst und Sport seien hier gar nicht erwähnt - gab ihm Recht:

Der spätere Automobilpionier Karl Benz (1844–1929) wurde bereits mit 9 am Lyzeum unterrichtet und wechselte mit 15 an die Technische Universität Karlsruhe, wo er mit 19 seinen Doktortitel erhielt. Marie Curie (1867–1934) entdeckte die Röntgenstrahlung mit 28. Der Inder Srinivasa Ramanujan (1887–1920) brachte sich selbst Mathematik bei und entwickelte mit 13 seine ersten Theoreme. Jean Piaget (1896–1980) veröffentlichte mit 11 eine Untersuchung über den Albino-Sperling und wurde später ein weltbedeutender Psychologe. Norbert Wiener (1894–1964) begann mit 14 in Harvard zu studieren und erhielt mit 18 seinen Doktortitel für eine Dissertation über mathematische Logik. Wolfgang Pauli (1900–1958) graduierte mit 21 in Physik. Enrico Fermi (1901–1954) löste, um von der Hochschule in Pisa aufgenommen zu werden, mit 17 die partielle Differentialgleichung für einen Schwingungsstab unter Verwendung der Fourier-Analyse. Der Computerpionier John von Neumann (1903–1957) besaß nicht nur ein eidetisches Gedächtnis, sondern konnte schon als 6-Jähriger achtstellige Zahlen im Kopf dividieren. Und das sind nur die bekanntesten Beispiele.

In Wahrheit dürfte die Anzahl damaliger Jung-Genies weitaus größer gewesen sein, als uns Chroniken und Lexika vermitteln. Denn für Wunderkinder (besonders weibliche) aus ärmlichen Verhältnissen oder in abgelegenen Gegenden war es ungleich schwieriger, eine Universität zu besuchen oder gar international bekannt zu werden. Ende des 20. Jahrhunderts kam Einsteins Diktum allerdings ins Wanken, denn trotz eines dichter werdenden Mediennetzes wurden die Berichte über junge Geistesgrößen seltener. Freilich mit bemerkenswerten Ausnahmen:

Der Physiker Abdus Salam (1926–1996) erzielte mit 14 das höchste jemals gemessene Ergebnis beim Einschreibetest an der Punjab University. James Watson (*1928), der später die Struktur der Doppelhelix entdecken sollte, promovierte bereits 1950 an der Indiana University Bloomington mit einer Arbeit über Bakteriophagen. Charles Fefferman (*1949) kam mit 11 aufs College, wurde später der jüngste Professor in den USA und erhielt unter anderem die begehrte Fields-Medaille für Mathematik. Stephen Wolfram (*1959) veröffentlichte mit 15 Jahren einen Artikel über Teilchenphysik. Ruth Lawrence (*1971) wurde mit 10 an der Universität Oxford aufgenommen und mit 13 die jüngste Absolventin bis dato. Der Mediziner Balamurali Ambati (*1977) schloss mit 11 die Highschool ab und machte mit 17 seinen Doktor. Und ein gewisser Ted Kaczynski (*1942) begann bereits mit 16 sein Mathematikstudium in Harvard, graduierte als einer der Jüngsten an der University of Michigan – und erlangte später als „Unabomber“ traurige Berühmtheit.

Heute sind jugendliche Wunderkinder äußerst rar geworden (übrigens harrt auch das Erdbebenprognose-Modell von Suganth Kannan noch der längerfristigen Bestätigung, und seine Vorhersage des kalifornischen Bebens könnte durchaus ein Zufallstreffer gewesen sein). Eine neue Untersuchung zeigt, dass Wissenschaftler ihre bahnbrechenden Entdeckungen immer später im Leben machen. Die Studienautoren haben das Alter von 525 Nobelpreisträgern von 1900 bis 2008 ausgewertet, das Ergebnis: Vor 1905 wurde noch ein Fünftel aller preiswürdigen Entdeckungen von Wissenschaftlern unter 30 Jahren gemacht. Ende des 20. Jahrhunderts ging ihre Zahl jedoch bereits gegen Null – und heutige Nobelpreisträger haben ihre Hauptarbeit erst im Alter von durchschnittlich 48 Jahren veröffentlicht. Zwei Faktoren dürften dafür verantwortlich sein: Erstens die immer größer werdende Menge an Wissen, die sich Jungforscher aneignen müssen, bevor sie ein Studium abschließen und selbst forschen können. Zweitens die abnehmende Zahl rein theoretischer Arbeiten, die oft in einem jüngerem Alter durchgeführt werden als experimentelle Untersuchungen. Anhand heutiger Jung-Genies lässt sich ein Trend weg vom theoretischen Arbeiten und hin zum Praktischen oder finanziell Verwertbaren beobachten:

Der Niederländer Thomas van Linge (19) erstellt auf seinem Laptop die derzeit genauesten Karten von Kriegsgebieten. Johannes Braumann schloss 2009 mit 17 sein Master-Studium „Computational Intelligence“ an der TU Wien ab und unterrichtet seither als Universitätsassistent. Die 1989 geborene Toby Armstrong hat, seit sie 19 ist, einen Lehrstuhl an der Konkuk Universität in Seoul inne und lehrt an der Fakultät für Advanced Technology Fusion. Adam Wilson schaffte es mit 27, als Erster eine „telepathische“ Nachricht mit Twitter zu übermitteln – indem er Gehirnströme digitalisierte und in Text übersetzte. Philip Streich aus Wisconsin arbeitete schon als 17-Jähriger mit Karbon-Nanoröhrchen und entwickelte ein Spektrometer, um deren Eigenschaften zu untersuchen. Eric Delgado (18) aus New Jersey arbeitet an mikrobiologische Strategien gegen antibiotika-resistente Krankheitserreger. Hannah Herbst aus Florida entwickelte mit 15 das Modell einer Aufbereitungsanlage für Strom und Trinkwasser aus Meeresströmungen. Tristan Pang (*2001) wiederum erreichte mit 13 die höchste Bewertung bei den Cambridge A Level Exams und entwickelte als 12-Jähriger eine Online-Lernplattform. Der 7 Jahre alte Akrit Jaswal aus einem Bergdorf im Himalaya sorgt – mit einem der höchsten je gemessenen Intelligenzquotienten und unglaublichen medizinischen Kenntnissen – für Schlagzeilen. Und Ayan Qureshi (*2009 in Pakistan) wurde mit nicht mal 6 Jahren jüngster Microsoft Certified Professional (MCP) aller Zeiten.

Auch Apple und Google sind dabei, sich die letzten Wunderkinder zu schnappen – wie etwa den 14-jährigen Grant Goodman, mit dessen App-Knowhow sich Tim Cook die Vorherrschaft am Smartphone-Markt sichern will. Bereits 2012 senkte Apple das Mindestalter für Teilnehmer seiner Entwicklerkonferenz von 18 auf 13 Jahre. Teenager können sich sogar für Stipendien bewerben, wenn sie sich den Eintrittspreis nicht leisten können; fast die Hälfte der 200 vergebenen Stipendien für die Entwicklerkonferenz von 2014 entfiel bereits auf Minderjährige. Google wiederum bot auf seiner I/O-Konferenz 2014 erstmals ein Programm für Jugendliche an und lud 200 Kinder im Alter von 11 bis 15 Jahren für einen halben Tag ein, um grundlegende Werkzeuge für die Software-Entwicklung zu erlernen. So erfreulich diese Entwicklung ist, sind von derartigen IT-Youngsters wohl keine wissenschaftlichen Visionen und Durchbrüche zu erwarten.

Doch wie wäre es, Wissenschafts-Wunderkinder einfach zu züchten? Robert Plomin vom King’s College London sucht bereits seit 2010 nach den Genen, die für einen hohen Intelligenzquotienten verantwortlich sind. Zwar ist nicht gesagt, dass sie überhaupt existieren, aber kürzlich tat er sich mit Stephen Tsu zusammen – einem Theoretischen Physiker an der Michigan State University, der außerdem das Genomic Institute im chinesischen Shenzhen berät. Dort haben die beiden nun auch junge Genies aus chinesischen Wissenschaftsolympiaden rekrutiert: 1600 insgesamt, alle mit einem IQ von 150 oder höher. „China is Engineering Genius Babies“ titelte bereits kritisch das Magazin VICE. Tatsächlich könnte man den beiden Genetikern unterstellen, die zunehmende Schwierigkeit akademischer Top-Karrieren durch einen „gepimpten“ Zuwachs an Wunderkindern auszugleichen.

Interessant ist hierbei, dass – laut aktuelleren neurobiologischen Erkenntnissen – ein hoher IQ im Kindesalter häufig mit niedriger Frustrationsschwelle und geringer sozialer Kompetenz einhergeht. Wie werden also zukünftige Krisenkonferenzen zwischen 5-jährigen chinesischen Atomwissenschaftlern, minderjährigen US-Diplomaten und pickeligen Moskauer Geostrategen ablaufen? Wir dürfen gespannt sein …
 

Uwe Neuhold ist Autor, bildender Künstler, Medien- und Museumsgestalter mit Schwerpunkt auf naturwissenschaftlichen Themen. Alle Kolumnen von Uwe Neuhold finden Sie hier.

Kommentare

Bild des Benutzers Hans Schilling

Um also die Frage in der Überschrift zu beantworten:

Nein, die Ära (natur)wissenschaftlicher Kinder geht nicht zu Ende!

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.