25. März 2020 8 Likes

Das Gurren der Tauben

Ist plötzlich alles anders? Oder alles nur anders sichtbar?

Lesezeit: 6 min.

In „Danse Macabre“, seinem Sachbuch über das Horrorgenre, erzählt Stephen King, wie er im Oktober 1957 als Zehnjähriger in einem Kino den Science-Fiction-Film Earth vs. The Flying Saucers sah – als plötzlich die Vorführung unterbrochen wurde, das Licht im Saal anging und der Manager des Kinos verkündete, die Sowjetunion habe gerade einen Satelliten ins All geschossen. In diesem Moment, so King, sei ihm bewusst geworden, dass die Welt ein ziemlich unheimlicher Ort ist. Aber es waren keine Monster oder andere irreale Kreaturen, die diesen Moment definierten. Es war das Reale selbst. Es war ein Science-Fiction-Moment.

Vor vier Tagen, an einem Samstagmorgen im März 2020, weckte mich eine Lautsprecherstimme aus einem vorbeifahrenden Polizeiwagen. Sie verkündete, die bayerische Staatsregierung habe strenge Ausgangsbeschränkungen für alle Bürgerinnen und Bürger angeordnet. Man dürfe nur noch in Ausnahmefällen das Haus verlassen. Der Grund für diese drastische Maßnahme, die Covid-19-Epidemie, war zwar schon seit einiger Zeit ein Thema, und trotzdem hatte dieser Moment etwas Jähes, Unvermitteltes. War es doch erst vor drei Monaten, dass in den Medien Berichte aus dem chinesischen Wuhan von einem neuartigen Erreger aufgetaucht waren. Und waren es gerade mal drei Wochen, in denen das Virus und seine Verbreitung, so wie das Wort „Corona“ (das im Übrigen einen Virentyp und keinen Einzelerreger bezeichnet), in das Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit eingesickert waren. Aber jetzt, ganz plötzlich, als hätte jemand die Farbe der Sonne geändert, befinden wir uns in einer neuen Wirklichkeit. Plötzlich leben wir in „Corona-Zeiten“.

Plötzlich sind fünfundneunzig Prozent der Tageszeitung nur einem Ereignis gewidmet. Plötzlich gibt es keine Sondersendungen im Fernsehen mehr, weil beinahe alles eine Sondersendung ist. Plötzlich lernt man die freiheitsbeschränkenden Möglichkeiten des Infektionsschutzgesetzes kennen. Plötzlich hantiert man mit Begriffen wie „social distancing“ oder „Kontaktverbot“. Plötzlich finden sich die meisten von uns (ich auch) in einem „Home Office“ wieder. Plötzlich gibt es ein Vorher und ein Nachher, und das, was wir im Vorher getan und gedacht haben, fühlt sich jetzt schon fern und nostalgisch an.

Ja, plötzlich, sagen viele, ist Science-Fiction zur Wirklichkeit geworden.

Keine Sorge, ich habe hier nicht die Absicht, die dramatische Situation, in der sich weite Teile der Weltbevölkerung befinden oder möglicherweise bald befinden werden, mit irgendwelchen prä- oder postapokalyptischen Szenarien abzugleichen, wie sie sich die Science-Fiction-Macher in den letzten Jahrzehnten zuhauf ausgedacht haben. Natürlich, es mag sein, dass ein bestimmter Film oder Text dem, was gerade geschieht, ziemlich nahe kommt: die sich exponentiell steigernden Infektionsraten, die menschenleeren Städte, die Kaskade an Notverordnungen, die Drohnenbeobachtungen, die Durchhalteparolen („It all feels very ‚Station Eleven‘“, schrieb mir gestern eine Kollegin aus den USA). Aber zum einen ist es schlicht deplaziert, die bedrückenden Bilder, die uns etwa aus Italien erreichen, durch den Filter holzschnittartiger Produkte der Entertainmentindustrie zu betrachten. Und zum anderen stimmt die These gar nicht. Science-Fiction ist nicht zur Wirklichkeit geworden. Sondern Wirklichkeit ist zur Science-Fiction geworden.

Das ist ein ganz wichtiger Unterschied. Dass Science-Fiction zur Wirklichkeit wird, geschieht nämlich ständig, ja, hin und wieder sogar in dem Sinne, dass sich prognostische Spekulationen bewahrheiten; schließlich gab und gibt es haufenweise dieser Spekulationen, und dass sich die eine oder andere davon bewahrheitet, ist nicht unbedingt überraschend. Viel öfter allerdings wird Science-Fiction in dem Sinne zur Wirklichkeit, dass wir, wie Metallspäne in einem sich neu justierenden Magnetfeld, unaufhörlich unsere individuelle Realität kollektiven Veränderungen anpassen müssen. In der Science-Fiction haben wir es eben nicht mit einem Ereignis zu tun, sondern mit einem EREIGNIS, und je weiter das 21. Jahrhundert voranschreitet, desto mehr werden wir es, ganz unabhängig von der aktuellen Krise, mit einem solchen EREIGNIS zu tun bekommen. Um das vorherzusagen, muss man weder Zukunftsforscher noch Science-Fiction-Autor sein.

Weitaus seltener – und umso bedeutsamer – ist es, wenn Wirklichkeit zur Science-Fiction wird. Dann geschieht nämlich Folgendes: Der Film wird unterbrochen, die Lampen im Kinosaal gehen an, und die Zuschauer blinzeln, so wie es Stephen King in „Danse Macabre“ beschreibt, „wie Maulwürfe ins Licht“. Plötzlich sehen sie die Bühne, auf der sich ihr Leben abspielt – die Bühne, die ihr Leben ist. Keine Bühne voller Monster, sondern eine Bühne aus ökologischen Verflechtungen, aus körperlichen Abhängigkeiten, aus menschengemachter Infrastruktur, aus unerbittlichen Liefer- und Produktionsketten. Plötzlich erkennen sie, wie verletzlich sie nicht nur als Individuen sind – „spectres of solidities“, wie Emily Dickinson einmal in einem Gedicht schrieb –, sondern wie verletzlich alles ist, weil die Gesellschaft, die sie konstruiert haben, dadurch am Laufen gehalten wird, dass sie noch nicht geschehene Zeit verbucht, dass sie die Zukunft für sich in Anspruch nimmt, als hätte sie sich längst ereignet. Aber die Zukunft lässt sich nicht verbuchen. Niemand weiß, was der morgige Tag bringt. Wir alle blinzeln in die Zukunft wie ins Licht.

Der Blick auf diese Bühne, der Blick auf das, was wirklich geschieht, macht die Science-Fiction zu einer genuinen Kunstform. Die „Umwelt“ wird zur „Welt“, wird zum Sujet selbst und drückt ihre Absichten, Gefühle und Ideen aus. Plötzlich wird alles wichtig, weil alles sichtbar wird: Farben, Bewegungen, Strukturen, das Leben als Leben. Und plötzlich wird Zukunft wieder zu dem, was sie war, bevor wir sie verbucht haben: ein offener Raum. Eine Möglichkeit.

Wenn Wirklichkeit zur Science-Fiction wird, wie jetzt in „Corona-Zeiten“, dann erkennen wir wie Stephen King, dass die Welt ein ziemlich unheimlicher Ort und die Wahrscheinlichkeit recht hoch ist, dass zukünftige Pandemien noch viel mehr Menschen töten werden. Gleichzeitig aber erkennen wir auch, dass die Welt ein viel reicherer und vielleicht sogar schönerer Ort ist, als wir im Vorher gedacht haben. Verstehen Sie das bitte nicht falsch, es ist wohl so, dass etliche Länder das Schlimmste noch vor sich haben, und ich möchte hier keinen billigen Trost spenden. Was die Epidemie betrifft, kann ich Ihnen auch nur jene Ratschläge geben, die Sie hoffentlich von ganz vielen Seiten hören und beherzigen: Achten Sie auf sich und Ihre Mitmenschen. Gehen Sie keine Risiken ein. Kommen Sie zur Ruhe.

Aber ein Bild hat sich mir in den sich überschlagenden Ereignissen, in diesem EREIGNIS, das eine Sturzflut an Informationen ausgelöst hat, besonders eingeprägt: das eines österreichischen Fernsehjournalisten. Er stand in Salzburg auf einem leeren Platz und sagte, er habe gerade ein Geräusch gehört, das er zuvor nicht gekannt hatte: das Gurren von Tauben. Er habe dieses Geräusch zum ersten Mal gehört, weil es ja sonst immer – sprich: vorher – vom Lärm der Menschen und Autos übertönt worden sei.

Vermutlich werden Sie jetzt sagen: Natürlich kenne ich dieses Geräusch. Aber: Kennen Sie es wirklich? Haben Sie es je richtig wahrgenommen? Oder anders gefragt: Was haben wir vorher eigentlich richtig wahrgenommen (und was nicht)? Was galt vorher als normal (und was nicht)?

Es ist gerade viel davon die Rede, dass diese Situation auch „eine Chance“ ist, und es gibt nicht wenige, die davon überzeugt sind, dass nachher „alles anders“ sein wird. Ich bin mir da nicht sicher. Auch nach der weltweiten Finanzkrise 2008 hieß es, dass nun nichts mehr so sei, wie es vorher war, dass „der Kapitalismus“ an sein Ende käme. Ein Jahrzehnt später haben die Marktkräfte den Planeten fester im Griff als je zuvor. Und auch jetzt hört man allerorten, dass „die Maschine so schnell wie möglich wieder gestartet“ werden müsse, dass man „das System wieder hochfahren“ solle, dass es darum gehe, „auf den alten Wachstumspfad zurückzukehren“.

Aber genau das ist vielleicht die Chance. Denn jetzt, in dieser Ausnahmesituation, können wir beobachten und, wenn wir wollen, etwas daraus lernen, wie sich eine Gesellschaft versteht, wenn plötzlich die Lichter angehen und sie sich in all ihren Verwurzelungen in der Welt erkennt. Wenn sie erkennt, was „Welt“ eigentlich alles ist und sein kann. Das Wüten eines Virus. Die Solidarität einer Gemeinschaft. Das Gurren der Tauben.

Wir müssen nicht mehr genau hinhören oder besonders aufmerksam sein, um das alles wahrzunehmen.

Wir nehmen es jetzt alle wahr.

 

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