19. Dezember 2022 4 Likes

Die Wolken haben keine Angst

Zu Weihnachten: ein kurzer, unsentimentaler Text für die Menschen in hundert Jahren

Lesezeit: 4 min.

Vor einiger Zeit rief die schottische Künstlerin Katie Paterson die „Future Library“ ins Leben. Ihre Idee ist es, alljährlich eine Autorin oder einen Autor um ein Manuskript zu bitten, das in der neuen Bibliothek von Oslo in einem speziellen Raum verwahrt wird und erst nach hundert Jahren gelesen werden darf. Ich halte das für eine wunderbare Idee. Leider wurde ich bisher nicht um einen solchen Text gebeten, und damit ist auch nicht zu rechnen. Daher habe ich mich entschlossen, meine diesbezüglichen Notizen im Rahmen dieser Kolumne zu veröffentlichen. Das ist zwar nicht regelkonform, aber es gibt mir die Gelegenheit, Sie, liebe Leserin, lieber Leser der Zukunft, an dieser Stelle einmal herzlich zu grüßen.

Ich hoffe, es geht Ihnen gut. Ich hoffe, in hundert Jahren spielen im Frühling immer noch Eichhörnchen in Hinterhöfen und vor Weihnachten laufen Menschen immer noch mit Tannenbäumen und Geschenken durch die Straßen. Ich hoffe, in hundert Jahren spricht man noch über Latours Philosophie, liest Enzensbergers Gedichte und schaut Godards Filme. Ich hoffe, in hundert Jahren gibt es nicht mehr so viele Menschen, die sich ein böses Ende für alle wünschen. Ich hoffe, in hundert Jahren erinnert man sich noch an einen Ort namens Butscha.

Ich hoffe es. Aber wer weiß schon, was in hundert Jahren wirklich sein wird? Und so schreibe ich in meinem Zukunftstext lieber über etwas anderes. Nämlich über den Schnee.

Bekanntlich gibt es ganz viele Arten von Schnee. Pulverschnee, Firnschnee, Sulzschnee, Bruchschnee und so weiter. In den bayerischen Alpen kennt man an die dreißig Begriffe für unterschiedliche Schneearten. Am liebsten war uns Kindern jedoch immer der Weihnachtsschnee: jener Schnee, der München im Dezember in einen weißen Ozean verwandelte. Mit Schneewellen, die die Straßen herunterrollten, die Autos unter sich begruben und gegen die grauen Häuser schlugen. Dieser Schnee war das allerschönste Geheimnis.

Da die Menschen meiner Zeit aber so besessen vom Fortschritt sind, dass sie sogar das Wetter verändern, gab es in den letzten zehn Jahren in München vor Weihnachten gar keinen Schnee, sondern Regen und milde Temperaturen. Manchmal war es im Dezember so warm, dass man im T-Shirt spazieren gehen konnte.

Allerdings nicht in diesem Jahr. Mitte Dezember 2022 erreichte frostige Polarluft die bayerische Landeshauptstadt und verwandelte sie in einen weißen Ozean. Kinder ließen sich auf Schlitten durch die Straßen ziehen und sangen dabei, Hunde juchzten durch die Schneehügel, Katzen auf warmen Fensterbrettern blickten mit großen Augen nach draußen, und die Äste der Bäume bogen sich bis zum Boden. Es war das allerschönste Geheimnis.

Natürlich musste ich bei alldem an die fernen Winter meiner Kindheit denken. Und daran, dass ein heute Zehnjähriger die Stadt so zum ersten Mal sieht. Während Regen vor Weihnachten für mich nicht normal ist, ist für ihn eine verschneite Stadt im Advent nicht normal. Dieser Gedanke machte mich unruhig und auch etwas traurig, und so spazierte ich, um mich aufzumuntern, durch die weißen Straßen. Ich begegnete Menschen mit zufriedenen Gesichtern. Menschen, die so taten, als sei wieder alles in Ordnung. Ich wollte sie packen und ihnen erklären, dass das nicht stimmt – dass alles in schrecklicher Unordnung ist. Sie lächelten nur und zwinkerten in den Schnee.

Es ist schwierig mit den Menschen meiner Zeit. Sie wissen nicht, wo sie anfangen und wo sie aufhören. Sie glauben, die Welt und sie selbst sind ein und dasselbe. Sie meinen, keine Geheimnisse mehr zu brauchen.

Ich hoffe, das ist in hundert Jahren anders.

Bitte verwechseln Sie das nicht mit Nostalgie oder gar einer Retrotopie (wie es Zygmunt Bauman einmal genannt hat). Ich will nicht die Zeit zurückdrehen wie Putin, Xi oder Trump. Aber im Gegensatz zu Hegel, Lenin, Zuckerberg oder Musk glaube ich auch nicht daran, dass die Geschichte eine Richtung hat und es gilt, die Welt und die Zukunft zu erobern. Ich glaube, es ist besser, sich von der Welt und der Zukunft berühren zu lassen. Ich glaube, es ist besser, tief zu atmen und zu lauschen, was Raum und Zeit einem zuflüstern.

Ja, daran glaube ich.

Also spaziere ich weiter durch die weißen Straßen und lausche, was mir der Schnee zuflüstert. Ich würde diesen Schnee gerne festhalten, doch mir ist klar, dass er bald verschwinden wird. (Der Wetterdienst sagt für die kommenden Wochen Regen und milde Temperaturen vorher.) Tatsächlich verschwindet der Schnee schon, noch während er da ist. Alles verschwindet, noch während es da ist. Das ist leider so in unserem Universum, jetzt und in hundert Jahren.

Aber ich will keinen sentimentalen Zukunftstext schreiben, besonders nicht an Weihnachten. Und ich habe ja auch wirklich keine Ahnung, was Sie, liebe Leserin, lieber Leser der Zukunft, noch von dieser seltsamen Epoche wissen werden, die wir gerade zu Ende leben. Ich spaziere durch die weißen Straßen und lasse dem Schnee sein allerschönstes Geheimnis und denke an ein wahres, unsentimentales Enzensberger-Gedicht. Ich hoffe doch sehr, dass Sie es noch kennen werden:

„Und wie sanft/sie hinsterben! So schmerzlos/ist wenig hier. Die Wolken/sie haben keine Angst, als wüssten sie/dass sie immer wieder zur Welt kommen.“

Ich wünsche Ihnen, jetzt und in hundert Jahren, schöne Weihnachten.

 

Sascha Mamczak ist der Autor von „Die Zukunft – Eine Einführung“ und des Jugendsachbuchs „Eine neue Welt“. Zuletzt ist bei Reclam sein Buch „Science-Fiction. 100 Seiten“ erschienen. Alle Kolumnen von Sascha Mamczak finden Sie hier.

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