Die Zukunft sehen
Aus aktuellem Anlass: eine Wiederbegegnung mit Ridley Scotts „Blade Runner“
Es ist dieses stetige Fallen. Sicher gibt es etliche Gründe dafür, warum Ridley Scotts Blade Runner im Unterschied zu so vielen anderen Science-Fiction-Filmen auch nach fünfunddreißig Jahren nichts von seiner suggestiven Kraft verloren hat: etwa der die Vergangenheit kompostierende Futurismus (die trutzburgartigen Firmenkomplexe, Deckards durchtechnisierte Wohnung voller Memorabilien) oder das sich der Dunkelheit fügende Licht (das matte Glimmen in den Augen der Eule, das ineinander verschobene Aufleuchten von berstendem Glas); die der Hard-Boiled-Tradition geschuldete Lakonie („Er sagt, du Blade Runner“, „Ein Jammer, dass sie nicht leben wird“) oder die poetische Aufhebung des fiktionalen Raumes („C-Beams, glitzernd im Dunkeln, nahe dem Tannhäuser Tor“). Doch als ich den Film vor kurzem anlässlich der gerade im Kino laufenden Fortsetzung wieder einmal sah, wurde mir klar, dass es vor allem dieses Fallen ist, das Blade Runner – als Science-Fiction-Film, aber nicht nur als Science-Fiction-Film – zu etwas so Besonderem macht. Das meditative Fallen durch Straßenschluchten zu Beginn, das zu einem existentiellen Fallen wird und sämtliche Figuren, ob Menschen oder Replikanten, den ganzen Film über begleitet. Ein Fallen, ein Taumeln, ein Suchen nach Halt.
Blade Runner ist eine mit enormem Hollywood-Aufwand inszenierte Elegie, eine Abfolge von Sterbeszenen, die sich von der ersten (dem Mord an Deckards Kollegen) bis zur letzten (Roy Battys Selbsttranszendierung) immer tiefer in die Geschichte hineingraben, bis wir schließlich begreifen, dass diese Zukunft insgesamt langsam stirbt, dass sie durch ein dunkles Nirgendwo fällt, in dem es für die Protagonisten nicht mehr zu erreichen gibt als flüchtige Momente von Glück.
Diese Zukunft widerspricht in so ziemlich jeder Hinsicht dem Bild der „things to come“, wie es Science-Fiction-Filme sonst imaginieren. Sonst nämlich erzählen sie uns die ganz großen Zukunftsgeschichten: von Asteroiden auf Kollisionskurs mit der Erde, von Roboteraufständen und Klonrevolten, von machtgierigen Computerhirnen, von Weltraumschlachten um das Schicksal der Zivilisation. Zwar sind diese großen Geschichten nicht zuletzt der Symbiose geschuldet, die das Genre seit langem mit der Überwältigungsmaschinerie namens Film verbindet, aber vor allem dienen sie als psychokulturelles Ventil. Denn Geschichten dieses Typs sind für ein Wesen, das wie vor tausenden von Jahren immer noch von sozialen und temporalen Nahverhältnissen zehrt, letztlich gar nicht zu bewältigen. (Oder wie integrieren Sie eigentlich in Ihren Alltag die Frage, ob „die Menschheit“ ihre technischen Errungenschaften überleben wird?) Deshalb haben wir diese Geschichten an die Science-Fiction ausgelagert, deshalb haben wir die Zukunft mit überdimensionalen, geradezu monströsen Bildern vollgestellt, die uns gleichzeitig das beruhigende Gefühl geben, das alles sei doch, nun ja, eben Science-Fiction.
Mit der tatsächlichen Zukunft, also der Zukunft, die wir oder jene, die nach uns kommen, einmal als Gegenwart erfahren werden, hat das natürlich nichts zu tun. Damit meine ich allerdings nicht, dass die Science-Fiction, wie es ihr klischeehaft unterstellt wird, nur trivialen Unsinn propagiert; wer kann schon wissen, ob die Klone eines Tages nicht wirklich auf die Barrikaden gehen? Sondern ich meine, dass diese großen Science-Fiction-Geschichten – in Anlehnung an Baudrillard könnte man auch von „Hyper-Zukunft“ sprechen – eine zwar unterschiedlich geartete, aber immer erlösende Epiphanie suggerieren, die es nie geben wird. Denn die Zukunft kann uns gar nicht erlösen, schließlich muss sie ja, wie alle vergangenen Zukünfte, gelebt werden.
Von einer solchen Zukunft, die gelebt werden muss, erzählt Blade Runner. Natürlich geht es hier auch um etwas, sogar um etwas ziemlich Großes: die Erschaffung künstlicher Geschöpfe, die sich nicht nur gegen ihre Schöpfer wenden, sondern auch darauf hinweisen, dass es unmöglich ist, eine Grenze zwischen Mensch und Nicht-Mensch zu definieren (dieser anthropofugale Schock ist ja in der literarischen Vorlage von Philip K. Dick bereits dezidiert angelegt). Nur: Ist das wirklich entscheidend? Worum es in Blade Runner geht, lässt sich in einem Satz sagen. (Der gänzlich unpathetische Harrison Ford hat diesen Satz einmal so formuliert: „Der Film handelt davon, ob man eine sinnstiftende Beziehung zu seinem Toaster haben kann.“) Doch was den Film eigentlich ausmacht, lässt sich überhaupt nicht sagen – man kann ihn sich nur ansehen. Denn Blade Runner entwirft ein Bild von der Zukunft, das so durchkomponiert, so detailliert, so tiefenscharf ist, dass sich irgendwann alle Details vereinen und eine „Welt“ entsteht. Und an diesem Punkt kommt die Kunst der Science-Fiction ganz zu sich: Was woanders lediglich das Handwerk der Mise en Scène oder schlicht eine Kulisse ist, vor der sich die Figuren ihre Neurosen um die Ohren hauen, ist in der Science-Fiction ebenso so wichtig wie diese Figuren, auch und vor allem wenn wir die Kulisse selbst geschaffen haben oder, wie in unserer Gegenwart, im Begriff sind, sie zu zerstören.
In der Welt von Blade Runner wimmelt es nur so von Symbolen und Hinweisen auf die mögliche Bedeutung dessen, was geschieht, und Leute, die den Film in seinen verschiedenen Schnittfassungen vielleicht etwas zu oft gesehen haben, sind geradezu vernarrt darin, sich über diese Symbole und Hinweise den Kopf zu zerbrechen. Aber die Welt selbst, die in Blade Runner entsteht, ist kein Symbol; sie ist, was sie ist. Blade Runner zu sehen – nicht: in Blade Runner nach etwas Bestimmten zu sehen – heißt, ein Ganzes zu betreten. Ein taumelndes, fallendes Ganzes.
Es ist Denis Villeneuve hoch anzurechnen, dass er diesen, aus meiner Sicht wichtigsten Aspekt von Blade Runner in seiner Fortsetzung nicht jenem überintellektualisiertem Budenzauber geopfert hat, dem sich andere „ernsthafte“ Science-Fiction-Filme regelmäßig hingeben. Natürlich: Der neue Film heißt Blade Runner 2049, aber 2017 sind wir von dieser Replikanten- und Off-World-Zukunft noch genau so weit entfernt wie 1982. Und ja: Auch der neue Film erzählt eine große Geschichte, das heißt, er führt die große Geschichte des ersten Films auf eine Weise weiter, die den Symbol- und Hinweisfetischisten reichlich neue Nahrung gibt. Aber wie schon Ridley Scott nutzt Villeneuve die spezifischen ästhetischen Mittel des Genres und macht den Hintergrund zum Vordergrund. Und diesmal sind es nicht nur die Träume und Alpträume von Urbanität und Künstlichkeit, die zu einer sichtbaren Welt werden; diesmal sind es die Träume und Alpträume des Urbanen und Künstlichen selbst, die sichtbar werden, um immer wieder in Unsichtbarkeit zu verschwinden. Blade Runner 2049 ist ein Film aus Wolken und Nebel, was nicht heißt, dass sich in den Wolken und dem Nebel zwingend eine Wahrheit verbirgt; es kann gut sein, dass die Wolken und der Nebel die Wahrheit sind. Entscheidend dabei ist lediglich, dass das, was sichtbar ist, mehr ist als das, was die Kategorien der Geschichte und ihrer Binnenlogik, mit denen wir das Sichtbare messen, ergeben.
So verstanden – so angewandt – löst die Science-Fiction die Zukunft nicht in einer düsteren oder strahlenden Epiphanie auf, sondern sie vertieft die Zukunft, sie reichert sie an, sie verwandelt die Zukunft in eine Welt, der wir genauso staunend gegenüberstehen werden wie jener, in der wir uns gerade befinden. Auf der Suche nach Rick Deckard fällt der neue Blade Runner K durch diese Welt aus Wolken und Nebel, in der Hoffnung, dass irgendwo etwas existiert, woran er sich festhalten kann, und vermutlich ist dies die größte aller Geschichten.
Es ist unsere Geschichte.
Sascha Mamczaks Buch „Die Zukunft – Eine Einführung“ ist im Shop erhältlich. Alle Kolumnen von Sascha Mamczak finden Sie hier.
Kommentare