22. Juni 2020 6 Likes

Geisterzeit

Zurück in der Normalität. Aber welche Normalität meinen wir? Und welche wollen wir?

Lesezeit: 7 min.

Was also ist geschehen? Was haben wir erlebt? Was haben wir gelernt? Sind wir jetzt andere als vorher? Jetzt, da die Menschen wieder aus ihren Wohnungen und Homeoffices kommen, Kinder wieder in die Schule gehen, Autobahnen wieder befahren werden, Lieferketten wieder ineinander greifen, Fußbälle wieder rollen. Jetzt, da sich unser Leben wieder Schritt für Schritt „normalisiert“.

Ruft man sich die einschlägigen Artikel und Kommentare der vergangenen Wochen in Erinnerung, dann haben wir nichts Geringeres als ein „Menschheitsereignis“ erlebt, das „sämtliche Gewissheiten auf den Kopf gestellt hat“ und „nach dem nichts mehr so sein wird, wie es einmal war“. Ich erinnere mich, dass in der FAZ etwas von der größten Bedrohung stand, „der sich Homo sapiens in der technischen Moderne gegenübersah“. Ich erinnere mich an eine Titelgeschichte im Spiegel Mitte April, die den zivilisatorischen Neustart nicht nur vorhersagte, sondern geradezu beschwor. Die Covid-19-Pandemie als notwendiger und hoffentlich heilsamer Schock, als kulturelle Zäsur, als Beginn einer „neuen Normalität“, in der wir uns, wie ein berühmter Zukunftsforscher befand, anderen Wertmaßstäben annähern und innere Freiheiten anstelle der eingeschränkten äußeren Freiheiten setzen – das war so der Tenor. Und ich erinnere mich, dass ich mir schon damals, als fast ganz Europa stillgelegt war, die Frage stellte: Worauf stützt sich eigentlich eine solche Sichtweise?

Natürlich: Die Pandemie ist ein Welt- oder Menschheitsereignis nicht nur in dem Sinne, dass sich das SARS-CoV-2-Virus weltweit ausgebreitet hat, sondern sie ist auch die erste Pandemie dieser Art im Zeitalter globaler Vernetzung und globaler Nervosität. Aus allen Ecken und Enden des Planeten erreichten und erreichen uns in Echtzeit Infektionszahlen und Todesraten, sahen und sehen wir Bilder von Solidaritätsbekundungen, Eindämmungsmaßnahmen und Demonstrationen gegen Eindämmungsmaßnahmen. Von Mitte März bis Mitte Mai blockierte ein Thema sämtliche Kommunikationskanäle der Erde. Da liegt es schon nahe, von einer kulturellen Zäsur zu sprechen, und man muss auch kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass diese Pandemie in den Geschichtsbüchern der Zukunft ein eigenes Kapitel bekommen wird. Aber befinden wir uns jetzt in einer neuen, gar besseren Normalität?

Für mich – ich kann hier nur für mich sprechen, und auch nur auf Grundlage dessen, was ich jetzt, im Juni 2020, wahrnehme – für mich jedenfalls sieht es nicht so aus. Da sind nicht nur die weltweit wieder steil ansteigenden Kohlendioxidemissionen. Oder die Touristen, die es nicht erwarten können, sich wieder in den Billigflieger zu setzen. Oder mein Nachbar, der seinen SUV für den Sommer rüstet. Da ist schon das Wort Normalität an sich, das einen zum Zweifeln bringt.

In den vergangenen Wochen gab es nämlich noch einen anderen medialen Argumentationsstrang. Kaum saßen wir in unseren Wohnungen und Homeoffices, wurde die Hoffnung ventiliert, dass wir bald zur „Normalität“ zurückkehren würden, zu dem Leben, „wie wir es gewohnt sind“, „wie wir es lieben“, vor allem auch zu einem „geordneten Wirtschaftsgeschehen“ (diesen wunderbaren Ausdruck habe ich ebenfalls in der FAZ gefunden). Das war nicht sehr überraschend, schließlich basiert unsere ganze Zivilisation auf einem derart geordneten Wirtschaftsgeschehen: auf einer unaufhörlichen Zirkulation von Waren, einem unaufhörlichen Austausch von Dienstleistungen. In einer Zivilisation unseres Typs ist ein Zustand, in dem man kollektiv innehält und sich eine Pause verordnet, um in Ruhe einer medizinischen Herausforderung zu begegnen, nicht vorgesehen. Die Autos müssen fahren, die Flugzeuge müssen fliegen, die Maschinen müssen laufen. Das Ganze kann mal schneller oder langsamer vonstatten gehen, aber eines darf es auf keinen Fall geben: Stillstand.

Aus dieser Perspektive war die Pandemie keine kulturelle Zäsur, sondern schlicht und einfach ein Nachfrageschock (die Konsumenten haben sich in ihrem Einkaufsverhalten erst einmal auf das für sie notwendigste beschränkt), dem ein Angebotsschock folgte (manche Produzenten sind ausgefallen, weil sie ihre Schulden nicht mehr bedienen konnten). Das wird sicher für eine gewisse Zeit nachwirken, je nachdem, wie sich Infektionsgeschehen und Konsumverhalten in den einzelnen Ländern und Regionen entwickeln. Aber im Kern unterscheidet es sich nicht von anderen Rezessionen der letzten Jahrzehnte. So wie sich auch die ökonomischen Maßnahmen der Regierungen rund um die Welt nicht von dem unterscheiden, was man üblicherweise in einer Phase tut, in der die Wirtschaft einbricht: Man versucht, den privaten Konsum anzukurbeln. Die Menschen sollen wieder in die Läden gehen und Geld ausgeben. Die Wirtschaft soll wieder wachsen. Es soll wieder Normalität einkehren.

Das allerdings ist nicht die Normalität, von der gewisse Spiegel-Autoren oder Zukunftsforscher träumen, sondern sie ist das genaue Gegenteil. Ja, es scheint, als würde gerade ein Kampf der Normalitäten ausgefochten: zwischen jenen, die verkünden, die Welt nach der Pandemie werde nie wieder so sein wie zuvor, weil sie nicht wie zuvor sein darf – und jenen, die meinen, es werde sich nichts ändern, weil sich nichts ändern soll. Um eine soziologische Phrase aus der alten Bundesrepublik zu bemühen: Das Wort Normalität hat offenbar ein Legitimationsproblem.

Dieser Kampf ist nicht neu, er wurde in den vergangenen Wochen nur auf neue Weise sichtbar. Denn hinter der Hoffnung, dass die Pandemie zu einem zivilisatorischen Umdenken führt, steckt eine jahrzehntelange Debatte über eine ausbeuterische und zerstörerische Wirtschaftsweise, die die menschliche Zivilisation früher oder später gegen die Wand fahren wird. Diese Wirtschaftsweise, dieses „geordnete Wirtschaftsgeschehen“, ist unsere Normalität, die wir in Seminaren oder im Feuilleton zuweilen kritisch hinterfragen, die wir alle (auch ich) aber Tag für Tag leben, ohne uns wirklich bewusst zu machen, dass wir damit eine ökologische Zäsur herbeiführen, wie es sie in der Erdgeschichte noch nie gegeben hat. Dass wir damit auf eine Krise zusteuern, auf die wir in keiner Weise vorbereitet sind.

Walter Benjamin hat für ein solches Verdrängen und Leugnen der Abgründe des vermeintlich Normalen einst den Jahrhundertsatz „Dass es so weitergeht, ist die Katastrophe“ geprägt, aber er hat ihn nicht mit der Hoffnung verbunden, dass die meisten Menschen dieses „es“ irgendwann erkennen werden. Wie in dem berühmten Witz mit den Fischen schwimmen die meisten von uns nämlich im Wasser, ohne zu wissen, was Wasser ist, und so gibt es auch keinen besonderen Anlass zur Hoffnung, dass eine globale Gesundheits- und eine daraus folgende Wirtschaftskrise an alldem etwas ändern werden. Zumal sich beides weltweit ja sehr unterschiedlich auswirkt. Es gibt vielmehr Anlass zum Pessimismus, denn die vergangenen Wochen haben auch gezeigt, wie schlecht viele von uns mental darauf vorbereitet sind, wenn sich ihre persönliche Normalität schlagartig verändert. Können wir so eine wirklich globale Krise bestehen, wie sie sich beispielweise aus einer Kaskade lokaler Klimakatastrophen ergeben wird? Eher nicht.

Und doch: Epochen und ihre Wirtschaftsweisen gehen zu Ende, wenn das, was die meisten Menschen als normal empfinden, nicht mehr mit dem in Übereinstimmung zu bringen ist, was eigentlich normal ist. Auch wenn sich unser Leben gerade wieder normalisiert – wie normal ist es eigentlich? Während wir über fast nichts anderes als die Pandemie geredet haben, gab es in Mitteleuropa eine Dürre – das dritte Dürrejahr in Folge. Und während wir uns über die netten Tiere gefreut haben, die in die leeren Städte kamen, wurde gemeldet, dass das Great Barrier Reef kein funktionierendes Ökosystem mehr ist. Wie bei den Geisterspielen in der Fußballbundesliga, wo der Jubel des Publikums aus der Konserve kommt, haben die Dinge keine richtige Verbindung mehr zueinander. Diese Normalität ist nicht normal.

Was also ist geschehen in den vergangenen Wochen? Was haben wir erlebt?

Wir haben erlebt, was passiert, wenn eine Zivilisation, deren Funktionieren von ständiger Bewegung abhängt, für einen Moment verharrt. Jeder von uns hat das auf unterschiedliche Weise wahrgenommen, aber alle haben es wahrgenommen. Wir haben auch erlebt, dass keine militärische Macht etwas gegen ein Virus ausrichten kann – so wie auch keine militärische Macht etwas gegen den Zerfall des globalen Ökosystems und damit unserer Lebensgrundlage wird ausrichten können. Für diese Art von Katastrophen, die nicht von außen kommen, sondern von innen, aus dem Zentrum unserer Wirtschaftsweise, benötigen wir andere Instrumente, andere Lösungen, andere Denkfiguren.

Und haben wir etwas gelernt?

Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Vielleicht werden wir diesen historischen Augenblick bald wieder vergessen, wie so vieles, was einmal vollmundig als kulturelle Zäsur bezeichnet wurde. Vielleicht wird es sich aber auch als kulturelles Mem fortpflanzen und ganz praktisch dazu führen, dass einige jener unsinnigen Projekte, die derzeit aus Finanzierungsgründen ausgesetzt sind, grundsätzlich in Frage gestellt werden. Eben weil sie unsinnig sind. Weil wir sie eigentlich gar nicht brauchen.

Es kann natürlich auch genau das Gegenteil geschehen: die vollständige Umformung des Planeten durch das vorgeblich geordnete Wirtschaftsgeschehen und die totale Ideologisierung aller wissenschaftlichen Fakten und ökologischen Bedingtheiten unserer Existenz. Das politische Personal für eine solche Strategie hat sich längst formiert.

Oder es geschieht – und diese Zukunft hat eine ziemlich hohe Wahrscheinlichkeit – beides gleichzeitig. Epochen und ihre Wirtschaftweisen enden immer in einer Geisterzeit, in der die Dinge keine richtige Verbindung mehr zueinander haben. Auch unsere Epoche wird einmal so enden, und mir scheint, als hätte die Geisterzeit nun auf fast allen Ebenen begonnen. Die offene Frage ist, ob das Ende dieser Epoche mit einem Verlust der zivilisatorischen Errungenschaften einhergeht. Oder ob wir sie bewahren können. Das ist die Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Das ist unser Projekt.

Das ist die Normalität.

 

Sascha Mamczaks Buch „Die Zukunft - Eine Einführung“ ist im Shop erhältlich. Sein mit Martina Vogl geschriebenes Jugendbuch „Eine neue Welt“ erscheint im August im Peter Hammer Verlag. Alle Kolumnen von Sascha Mamczak finden Sie hier.

 

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