18. Dezember 2017 3 Likes

Veränderung

Über Marx, Heinlein und das Lachen im Silicon Valley

Lesezeit: 7 min.

Und es begab sich also vor geraumer Zeit, dass Google-Manager Eric Schmidt vor seine Jünger trat und verkündete, mit welchen Ideen sein Unternehmen die Welt verändern werde. Er sprach von selbstfahrenden Autos, Flügen zu fernen Planeten und dem Kampf gegen heimtückische Krankheiten, und es herrschte große Freude unter den Jüngern, und einer von ihnen fragte, ob es eigentlich etwas gebe, was Google nicht erfinden könne. Und Schmidt erwiderte: Wir werden wohl nie eine App erfinden, die den Menschen toleranter und weiser macht. Und er hob an zu einem Lachen, und seine Jünger lachten mit ihm. Hahaha.

Warum erzähle ich diese Geschichte? Vielleicht weil mir dieses Lachen so obskur erscheint. Ein Unternehmen, das zu fernen Planeten fliegen will, findet es lächerlich, wenn man von ihm erwartet, es könne so etwas wie eine Toleranz- und Weisheits-App entwickeln. Was ist daran eigentlich lächerlich? Aber so ticken die Uhren eben nicht im von sich selbst berauschten Silicon Valley. Es geht nicht darum, was den Menschen ausmacht, es geht um die „Welt“ – darunter machen sie es nicht, die Denker und Tüftler und Entrepreneurs des digitalen Zeitalters, und wie erfolgreich sie damit jedenfalls propagandistisch bereits sind, merken wir regelmäßig, wenn Prime-Time-Moderatoren wie Claus Kleber oder Bestsellerautoren wie Yuval Noah Harari das Wort „Zukunft“ mit jener Welle an technischen Neuerungen gleichsetzen, die gerade von Kalifornien aus über den Globus schwappt.

Ganz neu ist eine derartige Gleichsetzung natürlich nicht. Spätestens seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts ist das allermeiste, was wir als „zukünftig“ empfinden, abhängig vom technischen Fortschritt; da kann noch so viel von genuin sozialen oder gar kulturellen Krisen die Rede sein, die Hoffnung auf die erlösende Kraft des menschlichen Erfindungsgeists zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Moderne. Die Vorgabe, „die Welt zu verändern“, hat jedoch eine dezidiert andere Wurzel, zu der sich Leute wie Eric Schmidt wohl eher weniger bekennen würden. Im Jahr 1845 formulierte Karl Marx seine Thesen über Ludwig Feuerbach, und die elfte und berühmteste dieser Thesen lautete: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ Damit wurde, unter den Bedingungen von frühem Industriekapitalismus, Kolonialismus und Imperialismus, erstmals ein Denken wirkungsmächtig, das das Verhältnis zwischen Welt und Menschen durch die Möglichkeit und den Anspruch der „Veränderung“ definiert. Es galt, die Menschen in die Lage zu versetzen, die Welt als veränderbar und sich selbst als die Welt verändernde Subjekte zu begreifen. Und eine veränderte Welt hieß natürlich: eine bessere Welt.

Die politische Maßgabe, dass es darauf ankommt, die Welt zu verändern, ist seither konstituierend für progressive, kritische, linke Theorien und Praktiken unterschiedlicher Couleur. Ein konkretes Ziel, also eine wie immer geartete „beste Welt“, stand dabei nie im Vordergrund; es ging und geht vor allem um die Veränderung, die Verbesserung an sich – um das Versprechen, die Zukunft von der Gegenwart zu befreien. Dieses Versprechen gibt es heute immer noch, aber Marx’ elfte Feuerbach-These hat inzwischen längst den capitalistic turn vollzogen: Kein Hipster-Startup (und seit Obama übrigens auch kein Polit-Startup), das nicht mit der Phrase wirbt, die Welt zu verändern, das uns, wie Google, nicht die Botschaft vermitteln will, dass genau dies die eigentliche Absicht ist und das Geldverdienen nur Mittel zum Zweck.

Und wir glauben es ihnen. 

Nun liegt es mir fern, hier lang und breit über sprachliche Feinheiten zu räsonieren, ich belasse es nur bei dem Hinweis, dass man „die Welt“ gar nicht verändern kann, sondern lediglich etwas „in der Welt“, was in der Folge vielleicht das Verhältnis der Menschen „zur Welt“ und zueinander verändert. Und genauso müßig ist es, an die Binsenweisheit zu erinnern, dass die Technik ebendieses Verhältnis durchaus verändert und mitunter auch zum Besseren, aber dass es selbstverständlich nicht das inhärente Wesensmerkmal irgendeiner Technik ist, dieses Verhältnis zum Besseren zu verändern. Nein, worauf es mir ankommt, ist die Frage, was es eigentlich für Menschen, die sich als „verändernde Subjekte“ begreifen, bedeutet, wenn sich „die Welt verändert“.

Science-Fiction-Leserinnen und -Leser haben für diese Frage womöglich eine ganz besondere Sensibilität, immerhin hat Robert A. Heinlein in seiner legendären Rede auf der World Convention von 1941 „change“ als Dreh- und Angelpunkt des damals noch recht jungen Genres definiert: „Ich glaube, dass die Science-Fiction, mag sie noch so albern und abgedroschen, noch so verrückt und unglaublich, noch so schlecht geschrieben sein, wie sie will, einen deutlich therapeutischen Wert besitzt, weil jede Science-Fiction auf der Prämisse aufbaut, dass sich die Welt ändert.“ Und weiter: „Man kann die Bedeutung dieser Idee für unser heutiges Dasein wohl kaum überbewerten. Wenn man an diese Veränderlichkeit der Welt nicht wirklich glaubt, nicht auf sie vorbereitet ist und sie nicht erwartet, dann kann man seine geistige Gesundheit nicht behalten.“

Vermutlich hat Heinlein das so nicht beabsichtigt, aber mit dieser nach wie vor recht einleuchtenden Grundierung der ästhetischen Praxis der Science-Fiction hat er die elfte Feuerbach-These sozusagen in sich selbst zurück gebogen. Was Marx zum Appell gemacht hat, wird hier wieder zu einer Beschreibung oder Interpretation: Seht her, wir leben in einer sich unaufhörlich verändernden Welt, ob wir wollen oder nicht, ob wir selbst diese Veränderung bewirken oder nicht. Wenn man so will, kommen damit zwei Pole eines politischen Referenzrahmens zum Vorschein, der das zwanzigste Jahrhundert maßgeblich geprägt hat: die Menschen als weltverändernde Kraft auf der einen, die sich und damit die Menschen verändernde Welt auf der anderen Seite. Auch aktuell oszillieren wir politisch wieder zwischen diesen beiden Polen: Während die einen fest davon überzeugt sind, dass die Welt veränderbar ist, stehen die anderen der sich verändernden Welt eher ratlos gegenüber, und diese zweite Gruppe ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass sich die politische Landschaft in den USA und Europa in den vergangenen Jahren stark gewandelt hat. Trotzdem sollte man sich davor hüten, diese zweite Gruppe in toto in die rechte, reaktionäre Ecke zu schieben; man kann sich nämlich für noch so progressiv, kritisch oder links halten, instinktiv sehnt man sich immer nach etwas, an dem man sich festhalten kann, und die größte Fehlleistung der etablierten Parteien in den westlichen Demokratien war und ist es, diese Sehnsucht zu unterschätzen.

Vielleicht ist es also an diesem heiklen Punkt, an dem die Gegenwart steht, hilfreich, wenn wir uns bewusst machen, dass es zwischen der sich verändernden Welt und den die Welt verändernden Menschen keinen Unterschied gibt. So fällt es ja etwa nicht vom Himmel, wenn unter zehn Prozent der Erdbevölkerung über achtzig Prozent des Reichtums besitzen, wenn pro Tag zwei Tierarten aussterben, wenn es am Nordpol kaum kälter ist als in Mitteleuropa, wenn Methoden entwickelt werden, die Keimbahn zu manipulieren – Menschen haben diese Veränderungen bewirkt, natürlich nicht alle Menschen, aber alle Menschen haben diese Veränderungen mitbewirkt, indem sie sie zugelassen haben; indem sie sich haben einreden lassen, das sei eben so, da könne man nichts machen. Oder wie es spanische Soziologe Manuel Arias Maldonado einmal gesagt hat: „Hören Sie mir auf mit der Revolution, die Leute wollen ihr iPhone.“ 

Ja, wollen wir das alle? Sind wir diese Leute? Oder ist das nicht ein Bild von uns, das relativ neu ist, entstanden in der ersten industriellen Revolution und geradezu zementiert in den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, jenem Jahrzehnt, in dem, wie Thomas Friedman es nennt, die „goldene Zwangsjacke“ aus dumpfen Profitstreben geschneidert wurde, in der wir uns heute befinden? Gesellschaften verändern sich nämlich nicht, weil irgendjemand das vorgibt oder weil irgendjemand etwas Geniales erfindet; Gesellschaften verändern sich, weil sie in der Lage sind, ein Bild von sich selbst zu erzeugen, das anders ist als das gerade noch gültige Bild. Wir sind, nur so als Beispiel, nicht mehr die gleichen, die wir waren, als die Menschenrechte noch nicht für jeden Menschen galten, und wir werden auch nicht mehr die gleichen sein, die wir jetzt sind, wenn wir eines Tages herausfinden, dass es möglich – ja, sogar besser – ist, auch anderen Lebewesen entsprechende Rechte zu garantieren. Aber um dorthin (oder zu irgendeinem anderen besseren gesellschaftlichen Zustand) zu kommen, hilft es nichts, auf den politischen Erlöser oder auf eine neue „Erzählung“ oder auf eine Blaupause für die „große Transformation“ oder gar auf jene zu hoffen, die aus der Veränderung der Welt ein Milliardengeschäft machen, und es hilft auch nichts, es sich in der Endlosschleife aus „Da soll doch die Politik etwas tun“ und „Jeder Einzelne muss Verantwortung übernehmen“ gemütlich zu machen; um dorthin zu kommen, sollte man sich einfach nur klarmachen, dass alles, was ich gerade denke und bin, in der Zukunft womöglich etwas anderes sein könnte. Das heißt nicht, dass es anders sein wird oder sein sollte, sondern dass es anders sein könnte – dass wir anders sein könnten.

Das wiederum fällt uns, trotz aller Heinlein’scher Therapeutik, sehr schwer zu glauben, und ich habe das Gefühl, dass Leute wie Eric Schmidt sich darüber absolut im Klaren sind – und wenn das so ist, dann ist sein Lachen über die Toleranz- und Weisheits-App kein sarkastisches Feixen, sondern ein Ausdruck von Erleichterung. Denn würden sich die Menschen verändern – würden sie daran glauben, dass sie sich verändern können –, würden sie womöglich eines Tages darauf kommen, dass es besser ist, den ganzen Kram von Google nicht zu erwerben. Und das wäre nur der Anfang: Vielleicht würden sie dann auch darauf kommen, dass es besser ist, die Welt nicht zu verändern.

Sondern sie einfach mal für eine Weile in Ruhe zu lassen.
 

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