20. August 2019 3 Likes

Ich denke, also bin ich?

„Blindflug“ von Peter Watts

Lesezeit: 5 min.

Im Jahre 2082 tauchen völlig unvorbereitet 65.546 Objekte in einem präzisen Raster gleichmäßig verteilt in der Atmosphäre der gesamten Erde auf und verglühen in etwa einer Minute. In dieser Zeit sammeln die „Fireflies“ (Glühwürmchen) Daten und senden sie an einen unbekannten Empfänger. Man kann sich den Schock der Erdbevölkerung vorstellen. Wir sind nicht allein im All. Definitiv.

Doch welchem Zweck diente der „Datenüberfall“? Was haben die Außerirdischen mit den Informationen über unseren Planeten vor? Klarer Fall, man schickt eine Expedition auf den Weg, um die Aliens zu suchen, bevor sie uns einen Besuch abstatten. An Bord der Theseus befinden sich vier Menschen (oder ein paar mehr oder weniger, je nach Zählung und/oder Menschenverständnis), eine Künstliche Intelligenz – und ein Vampir.

Bitte?

Ja, „Blindflug“ (Blindsight; 2006; im Shop) macht es einem von der ersten Seite an nicht leicht. Peter Watts’ Erstkontaktroman ist nämlich weit mehr als ein Erstkontaktroman und gleichzeitig der Erstkontaktroman, der ziemlich einsam an der Spitze dieses Subgenres steht und vermutlich noch für lange Zeit stehen wird.

Denn natürlich findet die Theseus die Aliens, die im Kuipergürtel ein seltsames, riesiges Objekt bauen, das die Aliens selbst Rorschach nennen. Und die „Menschen“ an Bord der Theseus nehmen Kontakt mit ihnen auf. Obwohl „Kontakt“ hier wirklich ein dehnbarer Begriff ist. Und die Sache geht ziemlich in die Hose, denn nur eins der Besatzungsmitglieder wird zur Erde zurückkehren.


Finnische Ausgabe

Wer jetzt „Alien“ (der Film) denkt, liegt zwar nicht total falsch, aber denkt ein paar Lichtjahre zu kurz, denn die Fremden bei Watts sind soviel fremder als die Säurebluter, dass selbst der Begriff „fremd“ befremdlich wirkt. Und Watts hat sich das ziemlich gründlich überlegt, was er da anstellt. Er ist Meeresbiologe und nimmt das „Science“ in Science-Fiction sehr ernst. So ernst, dass er die meisten Leser garantiert überfordert. Macht aber nichts. In der Regel hat man eine Ahnung, worum es geht, ansonsten helfen: zweimal lesen, dreimal lesen, nachdenken, googeln.

Klingt anstrengend.

Ist es.

Aber – Jesus fucking Christ – es lohnt sich!

Tatsächlich weiß man gar nicht, wo man anfangen soll, um die Großartigkeit dieses Romans zu beschreiben.

Watts kann sagenhaft schreiben, auch wenn er kein klassischer Erzähler ist. Er will keinen „Pageturner“ verfassen, sondern zwingt die Leser zur Aufmerksamkeit. Auch zur Langsamkeit. Das liegt auch daran, dass Watts offenbar keinerlei Lust verspürt, es den Lesern mal einfach zu machen. „Erklären“, das will er in der Regel nicht. Man ist eben dabei, wenn hochgezüchtete, intelligente und gebildete Leute sich unterhalten. Neben einer Crew von Wissenschaftlern darf man sich eben schon mal blöd vorkommen. Es gibt sicher Leute, die lesen das in zwei Tagen durch. Ich habe viele Wochen gebraucht, manchmal nur wenige Seiten am Tag geschafft, weil mein Hirn immer wieder Pausen brauchte.

Zwei Stichworte sollte man zu Beginn der Lektüre im Kopf haben, dann fällt vieles leichter: Evolution und Bewusstsein (im Sinne von „Ich denke, also bin ich“). Darum kreist hier fast alles. Und Watts hat eine radikale Vorstellung von diesen Dingen, die nicht jedem gefallen werden. Aber das ist der Reiz.


Polnische Ausgabe

Die Hauptpersonen sind unglaublich. Aber keine Identifikationsfiguren. Nicht mal im Ansatz. Alle Crewmitglieder fallen in die Kategorie „Transhuman“, das heißt, sie wurden aufgepimpt, um in bestimmten Bereichen besser zu funktionieren. Das gilt auch für den Erzähler, Siri Keeton, dem im jugendlichen Alter praktisch das halbe Gehirn entfernt wurde, um eine schwere Epilepsie zu bekämpften. Das macht ihn zu einem Synthesist, jemanden, der winzigste äußere Merkmale registriert und zu einem schlüssigen Bild formt, aber zu keiner Gefühlsregung fähig ist. Das macht ihn zum perfekten Beobachter – sollte man meinen. Doch tatsächlich ist Keeton der unzuverlässigste Erzähler, den man sich denken kann. Aber die Erkenntnis kommt spät.

Und damit sind wir beim Vampir: Jukka Sarasti ist kein Dracula. Er ist vielmehr der künstlich im Labor erzeugte (Stichwort: Jurassic Park) späte Nachfahre eines ausgestorbenen Menschenzweiges (Stichwort: Neandertaler), dem wir die Vampirlegenden zu verdanken haben. Er ist ein „Raubtier“ und „echte Menschen“ sind für ihn eine Herde Vieh. Aber die Wissenschaft hat ihn quasi domestiziert – in Maßen. Er ist aufgrund seiner geistigen Kapazitäten ein idealer Kapitän – zusammen mit der AI, über die wir erst sehr weit hinten im Roman etwas erfahren – wenn bereits alles zu spät ist.


Peter Watts. Foto: rifters.com

Rorschach: Allein das Objekt der Aliens ist unfassbar, die Expeditionen in sein Inneres ein Meisterstück, das an Spannung, an Atmosphäre, an blankem Terror kaum zu überbieten ist.

Und die „Bewohner“ des Objekts. Das fädelt Watts sehr behutsam ein. Erst ganz allmählich kommen die Besatzungsmitglieder der Theseus der Sache auf den Grund, Irrtümer inbegriffen. Und jede Erkenntnis ist ein Stück weit schockierend und maximal faszinierend.

Das Finale ist schlicht umwerfend. Watts verweigert sich allerdings üblichen Erwartungen. Es gibt zwar durchaus einen Anflug von „Action“, aber der übliche krönende Höhepunkt – nun, sagen wir, er findet im „Off“ statt. Aber zu dem Zeitpunkt ist man schon so fertig mit den Nerven, so überwältigt, dass man sich ein Sauerstoffzelt wünscht.

Ungewöhnlich genug: Obwohl die Story überwiegend im All spielt, betreibt der kanadische Autor detailliertes Worldbuilding – die irdische Kultur und Technik des späten 21. Jahrhunderts wird in wenigen, aber enorm prägnanten Szenen eingefangen. Während der Lektüre fragt man sich manchmal: Warum macht er das? Das braucht er doch gar nicht! Aber heute weiß man, dass Watts vielleicht schon „Echopraxia“ (2014; im Shop) im Kopf hatte, den Folgeroman, der keine Fortsetzung von „Blindflug“ ist, aber im selben Universum spielt, wie man so schön sagt.

Der Roman hat keinen der maßgeblichen SF-Preise gewonnen, wurde aber für einige (Hugo, Campbell, Locus) nominiert. In einer besseren Welt hätte er alle Preise gekriegt, die man so einem Roman verleihen kann. „Blindflug“ ist ein Meilenstein der Science-Fiction. Eine Zäsur. Punkt.

Peter Watts: Blindflug • Roman • Aus dem Englischen von Sara Riffel • Wilhelm Heyne Verlag, München 2015 • E-Book • € 9,99 • im Shop

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