16. Oktober 2019

Raumpiraten und Orbitale

Mit „Bedenke Phlebas“ wurde der erste Roman des Kultur-Zyklus von Iain M. Banks neu aufgelegt

Lesezeit: 5 min.

Ein elektronisches Gehirn ist auf einem entlegenen Planeten abgestürzt, und es gibt nur eine Person, die es zuverlässig bergen kann – die jedoch hat sich in einem interstellaren Krieg der falschen Seite angeschlossen. Diese simple Ausgangsidee genügt Iain M. Banks, um mit „Bedenke Phlebas“ eines der faszinierendsten Ideengebilde der modernen Science Fiction vorzustellen: Das Konzept der KULTUR, einer utopisch anmutenden Gesellschaft ohne jede materielle Knappheit. Soeben ist der fesselnde Roman neu aufgelegt worden.

Bora Horza Gobuchul ist ein Wandler, der die Gestalt anderer Wesen anzunehmen vermag – und ein Söldner, der sich auf eine schwierige Mission einlässt. Er willigt ein, für die teils insektoid, teil reptilienhaft wirkende Spezies der Idiraner auf Schars Welt nach einem vermissten Gehirn der KULTUR zu suchen, weil es wertvolle Informationen enthält. Die Idiraner sind dabei, ein religiös motiviertes Imperium zu errichten, wobei sie keine Rücksichten nehmen: Besiegte Spezies werden mit rassistischer Nonchalance einfach für minderwertig erklärt. Dies ist mit den Prämissen der an individueller Freiheit ausgerichteten KULTUR unvereinbar. In dem sich entwickelnden Konflikt steht Horza jedoch auf Seiten der Idiraner, weil er der Meinung ist, dass sich die KULTUR zu sehr auf ihre technischen Errungenschaften verlässt. Doch der Weg zu Schars Welt – einem „Planeten der Toten“, auf dem eine frühere Zivilisation eine riesige unterirdische Kommandozentrale hinterlassen hat – ist kompliziert und stellt den Wandler immer wieder vor neue Aufgaben. So gerät er an eine Bande von Raumpiraten, die ihn zwangsrekrutieren und auf einer Kaperfahrt zu dem riesigen Orbital Vavatch mitnehmen; ein Unterfangen, dem wenig Erfolg beschieden ist. Horza erkennt, dass er nicht nur (buchstäblich) die Rolle des Anführers einnehmen muss, sondern auch die Crew zu überzeugen hat, es nunmehr mit einer aussichtsreichen Mission zu tun zu haben. Eben daran aber bestehen erhebliche Zweifel.

Der schottische Schriftsteller Iain M. Banks (1954–2013) hat eine ungewöhnliche literarische Biographie. Er schrieb unter dem Einfluss der New Wave seit Beginn der 1970er Jahre Science Fiction, veröffentlichte jedoch als erstes „The Wasp Factory“ (1984; dt. „Die Wespenfabrik“), einen mit Motiven der Phantastik spielenden Roman, der bei Kritik wie Publikum ein großer Erfolg wurde. Nach zwei vergleichbaren Büchern – „Walking On Glass“ (1985; dt. „Barfuß über Glas“) und „The Bridge“ (1986; dt. „Die Brücke“) – legte er 1987 mit „Consider Phlebas“ nicht nur lupenreine Science Fiction vor, sondern zudem eine Space Opera, also einen Vertreter jenes Subgenres, das literarisch zu den „erledigten Fällen“ zu gehören schien. Doch dies sollte sich als Irrtum erweisen, denn Banks gelang – unter Beibehaltung kriegerischer Konflikte und der typischen Gigantomanie – eine erfolgreiche Revitalisierung. Und die hat in erster Linie zwei Gründe: seine literarische Strategie und das Konzept der KULTUR.

„Bedenke Phlebas“ ist ein episodischer Abenteuerroman, der zunächst ganz klassisch die Geschichte einer „Suche“ erzählt: ideenreich, spannend und voller beeindruckender Bilder. Die kuriosen Raumschiffnamen wie Die Hand Gottes 137 oder Nervöse Energie sind dabei ebenso unvergesslich wie die Erfindung des Orbitals Vavatch, einer wasserführenden Ringwelt, für deren Umrundung kilometerlange Schiffe mehr als vierzig Jahre benötigen. Letztlich aber bleibt Banks mit seiner Geschichte um Raumpiraten, eine bedrohliche Fremdrasse und geheimnisvolle Bauwerke im Bereich des Erwartbaren, auch wenn „Bedenke Phlebas“ – wie etwa „A Case of Conscience“ (1958; dt. „Der Gewissensfall“, im Shop) von James Blish oder „Dschiheads“ (2013; im Shop) von Wolfgang Jeschke – zu den seltenen religionskritischen Werken der SF gehört. Wirklich interessant wird der Roman aber erst da, wo er typische Bestandteile der Space Opera umkrempelt. Für gewöhnlich behandeln militärische Weltraumabenteuer ein entscheidendes Ereignis – hier nicht. Es bleibt offen, wie wichtig die Suche nach dem Gehirn wirklich ist und wann die Rettungsaktion innerhalb des Kriegs genau stattfindet. Ein Anhang erläutert zwar Hintergründe, lässt aber bestimmte Details absichtlich offen. Auch führt das Personenverzeichnis keineswegs – wie sonst üblich – in den Roman hinein, sondern aus ihm heraus, denn es wird statt einer Vorgeschichte der spätere Werdegang der Figuren beschrieben. Schließlich gönnt sich Banks noch einige erfrischend genreferne Verknüpfungen. So ist der Romantitel dem Gedicht The Waste Land (1922) von T.S. Eliott entlehnt und spielt – nicht ohne Hintergedanken – auf einen ertrunkenen Seefahrer an. Der Raumschiffname Clear Air Turbulence lässt sich hingegen auf das gleichnamige Album (1977) der Ian Gillan Band beziehen, dessen Cover mit einem SF-Motiv von Chris Foss versehen wurde. Hier öffnet sich der Roman in unerwartete Richtungen.

Noch wichtiger aber ist das Konzept der KULTUR, mit der Banks ein großer Wurf (nicht nur innerhalb der Science-Fiction) gelang. Die KULTUR ist vieles: anarchisch, libertinär, omnipotent und in materieller Hinsicht bar jeder Grenzen; sie ist aber auch in sich widersprüchlich und keineswegs ohne Fallstricke und dunkle Ecken. Wer möchte schon gern den Kannibalen anheimfallen, die eine Insel des Orbitals Vavatch bewohnen? Für Banks ist die KULTUR mehr eine persönliche als eine soziale Utopie, und er hat sie in seinen Büchern immer wieder unter wirtschaftlichen, technischen und humanistischen Gesichtspunkten beschrieben. Als „Bedenke Phlebas“ erschien, war das Konzept schon weit entwickelt, da Banks seine Bücher „Use of Weapons“ (1990; dt. „Einsatz der Waffen“, im Shop) und „The Player of Games“ (1988; dt. „Das Spiel Azad“, im Shop) sowie die Erzählung „The State of the Art“ (1989/91, dt. „Ein Geschenk der Kultur“, im Shop) bereits weitgehend fertiggestellt hatte. Davon konnte sein Publikum allerdings noch nichts wissen. Entsprechend verblüfft es, wenn die KULTUR bei ihrem ersten Vorkommen in einem Roman ausgerechnet durch die Augen einer Gegnerfigur beschrieben wird. Erstaunlich ist auch, dass die lose Fortsetzung „Look to Windward“ (2000; dt. „Blicke windwärts“, im Shop) 800 Jahre nach den Ereignissen von „Bedenke Phlebas“ spielt.

Übrigens: Der Krieg zwischen den Idiranern und der KULTUR findet zwischen 1327 und 1375 n. Chr. statt; die „Chroniken der älteren galaktischen Zivilisationen“ bewerten ihn „als den bedeutendsten Konflikt der letzten fünfzigtausend Jahre und als eins dieser einzigartig interessanten Ereignisse, die heutzutage so selten sind“. Wer sich auf den KULTUR-Zyklus einlassen möchte, der findet mit „Bedenke Phlebas“ eine überzeugende Grundlage.

Iain Banks: Bedenke PhlebasRoman • Aus dem Englischen von Rosemarie Hundertmarck Heyne • 768 S. • € 10,99 E-Book • € 9,99 Hörbuch • € 29,95 • im Shop

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