19. September 2019 1 Likes

Die Zukunft der Müllmenschen

Biopunk aus China: Qiufan Chens Roman „Die Siliziuminsel“

Lesezeit: 3 min.

Die Schlagzeile aus dem Juli, dass Indonesien giftigen Recycling-Müll zu den Verursachern nach Deutschland zurückschickt, dürfte noch einigermaßen präsent sein – zumal sie nur ein gutes Jahr kam, nachdem Spitzenreiter China verkündete, keinen Plastikmüll mehr importieren zu wollen. Das globale Riesengeschäft mit dem Müll, in dessen ungleichem Kreislauf asiatische und afrikanische Länder den Staaten im Westen viele Sorgen an der Oberfläche aus den Augen schaffen, wurde von einer Lawine erfasst, das den lukrativen Müllberg ins Wanken bringt. Und selbst wenn diese Nachrichten nicht jeden erreicht oder tangiert haben, müsste allen klar sein, dass unserer Planet ein menschengemachtes Müllproblem hat. Entsprechend realistisch, zeitgemäß und sogar erschreckend plausibel kommt der chinesische Science-Fiction-Roman „Die Siliziuminsel“ von Qiufan Chen (im Shop) daher, der soeben bei Heyne auf Deutsch erschienen ist.

Zu seiner zwar fiktiven, aber keineswegs unrealistischen Siliziuminsel wurde Chen durch den Besuch auf einer echten Müllinsel in seiner Heimat angeregt, wo viele schlecht bezahlte Menschen unter lachhaften Sicherheitsbedingungen den Schrott aus dem Westen, der schiffscontainerweise vor ihre Haustüren gekippt wird, nach wiederverwertbaren Rohstoffen durchwaten und -forsten. Denn besonders Metalle und seltene Erden stehen hoch im Kurs der Verwerter und Aufbereiter. Doch dafür müssen die wertvollen Materialen gefunden und vom Rest getrennt werden, und das möglichst billig. Gesundheitsfreundlich geht das selten. Dann wird das Leben der vielen armen Müllmenschen sowie der wenigen neureichen Gangster und Politiker auf der vergifteten Siliziuminsel in Chens fundiertem Buch auch noch durch die Ankunft des Amerikaners Scott Brandle erschüttert, der für ein großes Recyclingunternehmen lukrative Projektverträge abschließen soll. Aber auch Brandles junger Dolmetscher Chen Kaizong, der in den Staaten studierte und familiäre Verbindungen zu den drei großen, alles bestimmenden Mafiaclans auf der Insel hat, und das einfache Müllmädchen Mimi werden das Schicksal der Siliziuminsel entscheidend verändern …


Qiufan Chen. Foto © Lin Yi’an

Plot oder Stil von „Die Siliziuminsel“ sind für die Wirkung des Romans lange nicht so signifikant wie die Ideen, die Stimmung, das Setting, die einzelnen Szenen und die Greifbarkeit der ganzen Geschichte über die Müllinsel. Qiufan Chens Debütroman, der allerhand Kurzgeschichtenveröffentlichungen in Asien, in Europa und in angesehenen Magazinen und Anthologien in den USA folgt, begegnet Lauren Beukes, Nnedi Okorafor und Paolo Bacigalupi (im Shop), die Cyberpunk und Biopunk vor exotischer Kulisse weiterentwickelten, allemal auf Augenhöhe. Chens Landsmann und Vorreiter Cixin Liu (im Shop), der seinen Kolleginnen und Kollegen den Weg nach Westen öffnete, ist zurecht angetan, und Ken Liu übertrug auch Chens Roman als „The Waste Tide“ ins Englische. Wie schon bei Cixin Lius Bestsellern, stellen die chinesischen Akzente für den Leser am anderen Ende der Seidenstraße ein faszinierendes Genre-Vergnügen dar. Etwa wenn der für Google arbeitende Online-Werbefachmann Chen den Aberglaube seines Heimatlandes einbaut und so einen wirksamen Kontrast zur Hard-SF, der Hightech und dem überraschenden Transhumanismus in seiner Story erzeugt, wo sauberes Wasser von E-Bikes herunter verkauft wird, die Cyber-Realität von AR-Brillen süchtig macht und am Strand ein alter Kampfmech vor sich hin rostet.

Die Reise auf die Siliziuminsel birgt Gefahren. Man schläft vermutlich ruhiger, wenn man nicht so viel über das Müllproblem nachdenkt, zu dem jeder von uns beiträgt, selbst wenn man noch so pflichtbewusst recycelt. Damit ist es jedoch bei Weitem nicht getan, und daran erinnert uns Qiufan Chen eindringlich in seinem ideenreichen Roman – seinerseits kein Recycling-Produkt, sondern ein topaktueller Science-Fiction-Remix und ein weiterer wichtiger Beitrag zur internationalen Zukunftsliteratur aus China.

Qiufan Chen: Die Siliziuminsel • Aus dem Chinesischen von Marc Hermann • Heyne, München 2019 • 480 Seiten • E-Book: 13,99 Euro (im Shop)

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