27. Juli 2020 3 Likes

In der Mitte des Sommers

Wenn Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ein Bild namens Wirklichkeit erzeugen

Lesezeit: 6 min.

Was für großartige Möglichkeiten dieser Sommer der eingeschränkten Möglichkeiten doch bietet. Ferne Ziele sollen nicht angesteuert werden, man kann also die nähere Umgebung erkunden. Auch ist es ratsam, sich nicht so erholungshysterisiert wie sonst durch die Ferienzeit zu bewegen, man sollte eher Orte der Stille und Verlangsamung aufsuchen. Orte wahrer Empfindungen. Vielleicht Orte, die man lange nicht mehr gesehen hat. Orte der Kindheit, an denen einmal begann, was wir ein Leben nennen.

In diesem Corona-Sommer habe ich so einen Ort meiner Kindheit besucht. Ein kleines Dorf in Niederbayern, etwa zwei Stunden Autofahrt von München entfernt, in einer Gegend, in der sich, wie es früher so schön hieß, Fuchs und Hase Gute Nacht sagen. In dem Dorf hatte sich vor vielen Jahren meine Familie in einem ehemaligen Schulhaus eingemietet und praktisch jedes Wochenende dort verbracht. Zum Schulhaus gehörte ein verwilderter Garten voller Büsche und Bäume, ein grünes Dickicht, das so weit reichte, wie es meine Fantasie erlaubte. Nachts habe ich in diesem Garten oft das Flüstern von Gespenstern gehört. Glücklicherweise waren es freundliche Gespenster.

Das Schulhaus stand am unteren Ende einer steilen, kurvigen Straße. Am oberen Ende dieser Straße wohnten die Prückners, eine befreundete Familie ebenfalls aus München, in ihrem großen Bauernhof, der damals zwar längst kein Bauernhof mehr war, aber dessen Ensemble aus Wohnhaus, Scheune, ehemaligen Ställen und abschüssiger Wiese den Eindruck erweckte, als wäre das 19. Jahrhundert nie zu Ende gegangen. Die Prückners waren eine ziemlich spannende Familie, nicht zuletzt deshalb, weil der Vater, Tilo Prückner, ein bekannter deutscher Schauspieler war, dessen Geschichten aus der „Welt des Films“, meistens bei einer Flasche Wein erzählt, mich unendlich faszinierten. In diesen Jahren war Tilo Prückner für mich der Inbegriff eines Erwachsenen: voller Energie, voller Anekdoten, voller Rätsel. Teil einer fernen, größeren, unbegreiflichen Welt.

Das waren die frühen 1980er-Jahre. Ich fuhr ein BMX-Rad, das Fernsehen zeigte in der Nacht ein Testbild, Politik wurde in einer Stadt namens Bonn gemacht, und im Winter gab es so viel Schnee, dass man darin einsinken und für immer verschwinden konnte.

Wie alles in unserem Universum ging auch die Zeit der Wochenendfahrten in das kleine niederbayerische Dorf irgendwann vorbei. Wir Kinder wurden erwachsen, schrieben unsere eigenen Lebensgeschichten, und die Erinnerung an diesen Ort verblasste. Über dreißig Jahre hatte ich das Dorf nicht mehr gesehen, und so fühlte ich mich seltsam nervös, als ich vor einigen Wochen darauf zufuhr. Es stimmt, dass man manche Erinnerungen in Ruhe lassen sollte. Aber ich war einfach neugierig, was sich dort in all den Jahren getan hatte.

Das Dorf gibt es noch, doch das alte Schulhaus am unteren Ende der Straße, in dem wir uns eingemietet hatten, war irgendwann abgerissen worden. Jetzt ist dort ein Parkplatz und dahinter, wo einst Gespenster in einem verwilderten Garten flüsterten, erstreckt sich ein riesiges Maisfeld. Die Landschaft wurde, wie man so sagt, flurbereinigt, aber das hat nicht dazu geführt, dass sie größer und offener wirkt, sondern im Gegenteil: Sie wirkt nun kleiner und beklemmender. Früher habe ich dort mehr sehen können. Viel mehr. Der Anblick des Maisfelds machte mich traurig.

Den Bauernhof der Prückners hatte man nicht abgerissen. Er steht immer noch und erweckt auch immer noch den Eindruck, als wäre das 19. Jahrhundert nie zu Ende gegangen. Aber die Prückners waren längst ausgezogen und hatten die Anlage verkauft. Fremde Menschen leben nun dort, und als ich davor stand und die Scheune, den Schuppen, die Wiese und all die Ecken und Nischen sah, die mir vor Jahrzehnten so vertraut gewesen waren, brachte ich es nicht über mich, zu läuten und zu fragen, ob ich mich einmal umsehen könnte. Das Gebäude und all das, was damit zusammenhing, waren in weite Ferne gerückt. Es hatte sich in Vergangenheit verwandelt. Auch das machte mich traurig.

Alles in unserem Universum verwandelt sich in Vergangenheit. Neue Gegenwarten bilden sich, auf die wir neue Zukünfte bauen. Dann werden diese Gegenwarten selbst zur Vergangenheit. Und irgendwann auch die Zukünfte. Jeder Mensch, der schon eine Weile auf der Erde ist, trägt eine Gegenwart in sich, auf der er einmal eine Zukunft gebaut hat. Für mich ist diese Gegenwart jene vergangene Zeit der BMX-Räder und der Testbilder im Fernsehen und der Winter, in denen man für immer im Schnee verschwinden konnte. Je älter wir werden, desto öfter strecken wir die Hand nach dieser Gegenwart aus. Doch sie ist nicht mehr greifbar. Sie ist von uns weg gefallen.

Als ich aber durch das Dorf meiner Kindheit ging, musste ich plötzlich an ein Gedicht von Jan Skácel denken, ein wundervolles Abschiedsgedicht, das den Titel „In der Mitte des Sommers“ trägt. Dort heißt es: Vollkommen ist’s / wie der sommer sich über die dämmerung beugt / An dünnen ästen makellose vogelbeeren / und außerhalb des gewichts der zeit / Der august so nah wie die distel am weg / Die tage um einen fußbreit kürzer ...

Und für einen Augenblick hatte ich das Gefühl, als würde die Vergangenheit – die frühere Gegenwart, auf der ich meine Zukunft gebaut habe – durch das dichte Geflecht der jetzigen Gegenwart hindurchscheinen. Als wäre die Wirklichkeit ein Palimpsest. Da waren die alte Schule und ihre vielen leeren Zimmer. Da war das grüne Dickicht in unserem Garten. Die Büsche und Bäume. Die schiefen Pfosten des Zaunes, den irgendjemand irgendwann einmal errichtet hatte. Da war das Flüstern der freundlichen Gespenster. Da waren das weite, magische Land und seine Geheimnisse.

Und so war es dann doch kein trauriger Tag, an dem ich das Dorf meiner Kindheit besuchte. Es ist alles immer noch dort: außerhalb des Gewichts der Zeit, wie Skácel schreibt. Vergangenheiten und Gegenwarten vermischen sich nämlich. Sie tun das sehr oft, viel öfter, als wir meinen. Und auch unsere Zukünfte sind Mischwesen, obwohl wir gemeinhin glauben, dass die Zukunft etwas strahlend Neues ist. Aber das stimmt nicht. Wohin wir auch gehen, wir nehmen unsere Leben immer mit. So wie die Leben der Menschen vor uns. Und der Menschen nach uns.

Das ist also meine Sommergeschichte. Genauer gesagt, meine Empfehlung für diesen Sommer: Wenn Sie können, dann besuchen Sie doch einen Ort, den Sie schon lange nicht mehr gesehen haben. Einen Ort wahrer Empfindung.

Die Geschichte hat aber noch einen Epilog. Vor wenigen Tagen erfuhr ich, es kam auch in den Nachrichten, dass Tilo Prückner gestorben ist. Wir hatten uns in all den Jahrzehnten nicht aus den Augen verloren, hatten uns immer mal wieder getroffen, er war ein Teil meines Lebens geblieben. Nach seinem Tod liefen auch einige seiner Filme im Fernsehen, um an ihn zu erinnern. Wenn ein bekannter Schauspieler stirbt, ist er ja auf kuriose Weise immer noch in der Welt: ein medialer Wiedergänger, gefangen in einer Dauerschleife aus Fiktionen.

Aber das Bild, das ich von Tilo habe, ist ein anderes. Es ist ein reales Bild. Ich sehe ihn in seinem Bauernhof sitzen, der kein Bauernhof mehr ist, ein Glas Wein vor sich, lachend, aufbrausend, eine Geschichte aus der Welt des Films zum Besten gebend. Ich sehe ihn in diesem kleinen niederbayerischen Dorf mit seinen Häusern und Bäumen und Feldern und Gespenstern. Ich sehe ihn dort außerhalb des Gewichts der Zeit.

In der Mitte des Sommers.

 

Sascha Mamczaks Buch „Die Zukunft - Eine Einführung“ ist im Shop erhältlich. Sein mit Martina Vogl geschriebenes Jugendbuch „Eine neue Welt“ erscheint im August im Peter Hammer Verlag. Alle Kolumnen von Sascha Mamczak finden Sie hier.

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