22. Oktober 2020 1 Likes

Samanta Schweblins Roman „Hundert Augen“

Furby 2.0: Eine Geschichte über invasive Technologie und virtuelles Miteinander

Lesezeit: 3 min.

Schon Ende der 1990er kümmerten wir uns um die Bedürfnisse digital-fordernder Tamagotchis und interagierten wir mit Furby-Roboterplüschtieren. Noch länger chatten wir online, bauen wir Verbindung zu Fremden in der Ferne auf, befreunden oder verlieben wir uns sogar über diesen anfangs anonymen Austausch im Internet. Heute teilen wir unser Leben außerdem bereitwillig, geradezu routiniert mit Bekannten und Unbekannten, auf Instagram, Twitter, Facebook oder auf YouTube, via Text, Foto, Podcast, Videostream oder via Gyrocam-Clip. Dabei gilt: je mehr, desto besser. Ja, wahrscheinlich sind wir alle ein Stück weit süchtig – abhängig von der Aufmerksamkeit und Anerkennung anderer, von denen wir die meisten nicht einmal kennen und die überall sitzen und klicken können und die hoffentlich liken, was wir ihnen und dem Rest der Menschheit von unserem Seelenleben oder unserem Alltagsleben zeigen.

Es ist daher gar nicht so weit her geholt, was die argentinische Autorin Samanta Schweblin in ihrem Roman „Hundert Augen“ beschreibt, der bei Suhrkamp auf Deutsch vorliegt. Im Buch breiten sich die Kentukis über die ganze Welt aus: Bunte, plüschige Roboter, die Pandas, Kaninchen, Krähen, Maulwürfen oder Drachen nachempfunden sind. Ein Kentuki kann nicht sprechen und sich nur auf einer Basis mit drei Rollen fortbewegen, außerdem muss das knapp 300 Dollar teure ‚Spielzeug’ regelmäßig aufgeladen werden – doch gesteuert wird er dank Kameraaugen von einem fremden Menschen, der irgendwo auf der Erde am Rechner oder Tablet sitzt, wann immer er in seinem eigenen Dasein ein Zeitfenster dafür hat.

Denn es ist so: Manche sind geborene Besitzer, andere von ihrem Naturell her Beweger. Der Zufall bestimmt allerdings, welcher Kentuki-Operator seinem designierten Kentuki-User nach dem Auspacken und Einschalten zugewiesen wird, wobei diese Verbindung einmalig ist. Sollte der Akku mal nicht zeitig aufgeladen oder der Kentuki zerstört werden, sind IMEI-Nummer des Steuergeräts sowie Roboteravatar verbraucht, können beide keine neue User/Kentuki-Beziehung eingehen. Die Interaktion und Empfindung auf beiden Seiten ist zudem komplett unterschiedlich. Einige User betrachten das Plüschding als Haustier, andere als Freund, Aufpasser oder Opfer; manche haben Angst vor Voyeuren und Pädophilen oder werden obsessiv. Beweger finden wieder einen Lebenssinn als Kentuki-Steuerer, überwinden Trauma und Einsamkeit. Eine Frau bekommt von ihrem Kentuki das Leben gerettet, eine Familie erlebt den blanken Horror, und wieder andere wollen mit vorgewärmten Beziehungen oder anderen Services Geld verdienen – oder die Kentukis befreien …


Samanta Schweblin. Foto: Wikipedia

Samanta Schweblin, die 1978 in Buenos Aires geboren wurde und heute in Berlin lebt, veröffentlichte bereits Bücher wie „Die Wahrheit über die Zukunft“ oder „Das Gift“. Ihr neuer multiperspektivischer Roman „Hundert Augen“ ist mit Sicherheit eines der besten Science-Fiction-Werke des Jahres. Eine umsichtige Bestandaufnahme unserer Akzeptanz und Gewöhnung hinsichtlich invasiver Technologie in unserem Leben und unserem Miteinander, und eine Betrachtung der Macht und des Einflusses, die Objekte und virtuelle Verbindungen haben können. Doch Schweblin geht sehr lange neutral an diese Veränderungen in unserem Sozialverhalten und der Welt ihres Romans heran, obwohl das Urteil ganz am Ende ziemlich eindeutig ausfällt. Unterwegs behandelt sie verschiedene Orte, Menschen und Schicksale rund um den Globus, die sie in einer effizienten und klaren Sprache mit wenig Techsprech schildert. So entsteht ein faszinierendes, kluges, glaubwürdiges Panorama der Kentuki-Revolution, das zugleich als Spiegel für unsere moderne Hightech-Welt und gegenwärtige digitalisierte Gesellschaft funktioniert. Und natürlich steckt in dieser Geschichte auch die Message, dass jeder vermeintlich weit entfernte, nichtmenschlich erscheinende Statistengegenüber, dem wir in unserem virtuell-realen Dasein begegnen, in der Regel ein Mensch mit eigenen Makeln, Problemen und Begehren ist, im Guten wie im Schlechten.

„Hundert Augen“ ist brillante Science-Fiction, große Gegenwartsliteratur und ein aktuelles Ausrufezeichen hinter der langen Tradition südamerikanischer Fantastik.

Samanta Schweblin: Hundert Augen • Suhrkamp, Berlin 2020 • 252 Seiten • Hardcover: 22Euro

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.