30. November 2020 6 Likes

Im Bunker

Für eine gute Zukunft brauchen wir vor allem eines: Empathie

Lesezeit: 6 min.

Es wird noch viel Lärm und Getöse geben, bis es soweit ist, aber das wird wohl nichts daran ändern, dass Donald Trumps Präsidentschaft in einigen Wochen tatsächlich zu Ende gehen wird. Nehmen wir uns also einen Moment und führen uns – zur Mahnung, zur Warnung, vielleicht auch, um einen Geist auszutreiben, der uns vier Jahre lang hat unruhig schlafen lassen – noch einmal das politische Geschäftsmodell dieses Mannes vor Augen. Das war nämlich denkbar simpel: Trump hat sich eine alternative Realität gebaut und diese durch mediale Dauerdröhnung so aufgebläht, dass ihm Millionen von Menschen dorthin gefolgt sind.

Wir werden wohl nie erfahren, was daran ausgeklügelte politische Strategie und was Psychopathologie war; selbst für seine Anhänger ist ja unübersehbar, dass Trump ein seelisch instabiler Mensch ist. Auch war Trump weder der erste, der seinen politischen Erfolg auf einem solchen Modell aufbaute, noch wird er der letzte gewesen sein. Aber er war der erste, der auf diese Weise versuchte, eine Demokratie, deren Existenz maßgeblich davon abhängt, dass sich die Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger auf eine faktenbasierte Realität verständigt, von innen heraus auszuhebeln. Und er ist damit ziemlich weit gekommen. Es gibt etliche Trump-Interviews, in denen keine einzige seiner Aussagen irgendeine reale Grundlage hat, in denen er also nichts als Irrsinn von sich gibt, und trotzdem (oder eben deshalb) hatte er vier Jahre lang eine solide Basis von Unterstützern.

Bis zur Wahl sah Trump vermutlich seinen Umgang mit der Covid-19-Pandemie als das in diesem Sinne strategische Meisterstück. Von Beginn an hat er die Pandemie kleingeredet und den Eindruck vermittelt, alles wäre unter Kontrolle und man müsse sich keine Sorgen machen. Dass die Zahl der Erkrankungen und Todesfälle in den USA so rasant wie in keinem anderen westlichen Land zunahm, hat ihn nicht nur nicht interessiert, er hat sein Desinteresse sogar offen zur Schau gestellt. Er wollte eine Realität erzeugen, in der die Schicksale dieser Menschen keine besondere Bedeutung haben, ja, in der es womöglich gar keine Pandemie gibt und das alles eine einzige große Verschwörung ist. (Es klingt surreal, aber in einer Reportage aus den USA berichtete eine Krankenschwester kürzlich von Patienten, die einfach nicht wahrhaben wollten, dass sie sich mit dem Virus infiziert hatten, während sie gerade daran starben.)

Damit ist Trump glücklicherweise gescheitert. Weil einfach zu viele Wählerinnen und Wähler jemanden kannten, der ganz real an einer Covid-19-Infektion gestorben ist, oder weil sie wegen der Pandemie ihren Arbeitsplatz verloren haben. Und glücklicherweise scheint es ihm auch nicht zu gelingen, die Realität so zu verbiegen, dass der Ausgang der Präsidentschaftswahl revidiert wird. (Der entscheidende Satz in einem der diesbezüglichen Gerichtsbescheide war: „Nur weil jemand behauptet, die Wahl sei gefälscht, ist sie noch lange nicht gefälscht.“) Aber auch wenn Trump die Wahl verloren hat, ist es ihm doch gelungen, unzählige Menschen in seinen geistigen Bunker zu zerren; ja, diesmal haben sogar noch mehr Leute für ihn gestimmt als 2016.

Wie konnte das nur passieren?

Menschen sind merkwürdige Geschöpfe. Zum einen ist es die Spezialität unserer Gattung, uns unaufhörlich immer mehr Teile der Realität anzueignen, immer mehr an Welt sichtbar, erreichbar, beherrschbar und nutzbar zu machen. Gleichzeitig zertrümmern wir die Realität, die wir uns aneignen, in zahllose kleine Welten, die aus unserer Binnenperspektive aber überhaupt nicht klein erscheinen, sondern so groß, als wären sie die ganze Welt. Anders ausgedrückt: Wir basteln uns überschaubare mentale Habitate und erklären sie zur Wahrheit. Manchmal sind Menschen ganz allein in so einem selbstgebastelten Habitat. Manchmal tun sich dort Gruppen zusammen. Und manchmal versammeln sich dort sogar weite Teile einer Gesellschaft ­– in Form einer Religion, einer Ideologie oder auch einer Wirtschaftsweise. Und bedauerlicherweise ist das keine putzige Marotte des menschlichen Geistes, sondern kann dramatische Folgen haben. So war im Laufe der menschlichen Geschichte der Weg in die Zukunft weitaus weniger von Vernunft und Verständigung geprägt als von Konflikten, die daraus entstanden, dass soziale oder staatliche Kollektive maßgebliche Aspekte der Realität einfach ausblendeten. Wir waren schon immer postfaktisch.

Die vergangenen Pandemie-Monate haben deutlich gezeigt, wie weit das sogar in Gesellschaften gehen kann, die sich, wie unsere, auf das Erbe der Aufklärung berufen: bis dahin, dass Menschen die Existenz des Virus leugnen, während zur selben Zeit andere Menschen auf den Intensivstationen um ihr Leben kämpfen. Aber eigentlich hätte es die Pandemie gar nicht gebraucht, um sich bewusst zu machen, wie tief die Kluft zwischen Welt und Welten in der menschlichen Wahrnehmung sein kann, schließlich stellen manche Menschen auch den anthropogenen Klimawandel in Abrede, obwohl kaum ein anderer Sachverhalt wissenschaftlich besser erforscht und nachgewiesen ist.

Zugegeben, es sind nicht allzu viele, die sich in so bizarren alternativen Realitäten aufhalten. Die Zahl derer, die die Existenz von SARS-CoV-2 oder den Zusammenhang zwischen den von Menschen verursachten Kohlendioxidemissionen und der Klimakatastrophe bestreiten, ist wahrscheinlich ziemlich gering. Doch leider kommt es auf die Zahl gar nicht an. Man braucht die Realität nicht aktiv leugnen, um Teil einer Realitätsleugnung zu sein – es genügt, wenn man sich einfach nicht für die Realität interessiert. Und genau an diesem Punkt setzen Politikerinnen und Politiker wie Trump an. Sie wissen, dass Menschen äußerst ungern unangenehme Dinge über sich selbst erfahren wollen. Dass sie sich etwa nur ungern damit befassen wollen, dass der Ausbruch der Pandemie etwas mit ihrer Lebensweise zu tun hat und dass Covid-19 der Anfang einer ganzen Kaskade von Pandemien in der Zukunft sein könnte. Genauso ungern wollen sie sich eingestehen, dass ihre Normalität – also der Zustand, nach dem sich gerade die allermeisten sehnen – die Biosphäre der Erde inzwischen so weit zerstört hat, dass manches davon irreparabel ist.

Ist es nicht viel angenehmer, all diese Aspekte der Realität auszuschließen oder kleinzureden, damit man einfach so weitermachen kann wie bisher („Ignorance is bliss“, lautet dazu das berühmte Stichwort des Dichters Thomas Gray, später wunderbar aufbereitet in Matrix)? Ja, ist es. Jedenfalls weitaus angenehmer als das Gegenteil davon – nämlich die Welt nicht auszuschließen, sondern so wahrzunehmen, wie sie ist, und zwar so viel Welt wie nur möglich: unsere menschlichen und nichtmenschlichen Mitbewohner auf dem Planeten, den Planeten als Ganzes. So weit wie möglich zu blicken und zu empfinden. So viel Empathie wie möglich zuzulassen. Wir Menschen verfügen über die Fähigkeit, Empathie nicht nur für nahestehende Artgenossen zu empfinden, sondern weit darüber hinaus, schließlich waren unsere Vorfahren einmal in ein natürliches Netzwerk eingebunden, ohne das sie nicht überleben konnten. Sie waren gezwungen, die Welt an sich heranlassen, sie zu verstehen, zu spüren. Aber je mehr wir uns die Welt angeeignet und verfügbar gemacht haben, desto mehr haben wir sie auch ausgesperrt. Desto mehr haben wir uns in unsere mentalen Habitate eingebunkert.

Das ist auch deshalb eher angenehm, weil es sehr traurig machen kann, sich mit all dem Leid, das es in der Welt gibt, mit all der Zerstörung, die Menschen verursachen, zu konfrontieren. Die menschliche Fähigkeit zur Empathie mit der Welt und dem, was darin ist, wird sich nicht automatisch aktivieren. Man muss es wollen. Man muss sich der Welt aussetzen. Das ist schmerzhaft, aber es ist auch bereichernd. Man begreift dann nämlich, dass wir alle Teil von etwas sind, dass sämtliche Aspekte der Welt – die Pandemie, das Klima, die Ökonomie, die Politik, das Leben jedes einzelnen von uns – untrennbar miteinander verbunden sind. Dass es keine Welten gibt, sondern nur eine Welt, die wir bewahren sollten, wenn wir denn eine Zukunft haben wollen.

Das alles ist weder neu noch besonders originell. Bestimmt haben Sie es in abgewandelter Form schon oft gehört oder gelesen. Vielleicht halten Sie es auch für esoterisches Blabla, das ist Ihr gutes Recht. Oder Sie sagen jetzt: Das weiß ich doch alles. Aber das ist eben genau der Punkt, denn auch in dieser Hinsicht sind wir Menschen merkwürdige Geschöpfe. Es reicht nicht aus, etwas zu wissen. Man muss es fühlen.

Nur dann wird man es wirklich wissen.

 

Sascha Mamczaks Buch „Die Zukunft - Eine Einführung“ ist im Shop erhältlich. Zuletzt ist sein mit Martina Vogl geschriebenes Jugendbuch „Eine neue Welt“ erschienen. Alle Kolumnen von Sascha Mamczak finden Sie hier.

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