5. Juli 2021 6 Likes

Brot für den Mars

Wenn wir in der Zukunft lediglich ein Geschäftsmodell sehen, schaffen wir sie ab

Lesezeit: 7 min.

Mir ist aufgefallen, dass ich im Rahmen dieser Kolumne fast nie irgendwelche Bücher oder Filme empfehle. Das hat, glaube ich, keinen bestimmten Grund (außer vielleicht den, dass es einfach viel zu viel zum Empfehlen gibt). Trotzdem setze ich hier mal einen Kontrapunkt und weise dezidiert auf einen Film hin, den Sie sich unbedingt ansehen sollten: „Schönes neues Brot“ – noch bis zum 22. Juli in der Arte-Mediathek abrufbar.

„Schönes neues Brot“ ist einer jener Dokumentarfilme, von denen es gar nicht genug geben kann, weil sie auf ganz unspektakuläre und dadurch umso luzidere Weise darauf aufmerksam machen, wie weit sich eine Gesellschaft unseres Typs mit dem Argument, etwas besser machen zu wollen, von traditionellen Praktiken entfernt, die man eigentlich gar nicht besser machen kann. Im Gegenteil: Indem man sie vermeintlich verbessert, mithin effizienter, günstiger, schneller macht, verschlechtert man sie. Die Herstellung des Grundnahrungsmittels Brot gehört zu diesen Praktiken, und sich das bewusst zu machen, ist schon mal ein guter Grund, sich den Film anzusehen.

Ich empfehle „Schönes neues Brot“ aber vor allem auch wegen einer Szene gegen Ende des Films, die sich tief in meinen Kopf eingegraben hat. Da führt der Sprecher der Firma Puratos – keiner der üblichen Krawattenmenschen, sondern eine hipsterartige Figur – die Zuschauer in sterile, neonbeleuchtete Räume, in denen daran geforscht werden soll, wie künftige Marskolonisten unter den speziellen Bedingungen, die auf unserem Nachbarplaneten herrschen, möglichst effizient, günstig und schnell Brot produzieren können. Das klingt nach Science-Fiction-Satire (in einer anderen irren Szene kurz vorher informiert uns der Chef von Puratos darüber, dass Brotkrümel in einem Raumschiff zu großen Problemen führen können), ist es aber leider nicht. Der belgische Puratos-Konzern, von dem ich, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, zuvor nie gehört hatte, ist nämlich maßgeblich dafür verantwortlich, dass Brot zu einem globalen Industrieprodukt geworden ist – er beliefert die ganze Welt mit chemischen Zusatzstoffen, die für den jeweiligen speziellen Brotgeschmack sorgen. Wenn Sie beim Discounter um die Ecke ein Aufbackbrötchen kaufen, dann steckt in diesem Brötchen mit ziemlicher Sicherheit ein Puratos-Enzym, und so ist die Wahrscheinlichkeit, dass die ersten Marsbewohner Turbosemmeln von Puratos frühstücken werden, nicht gerade gering.

Na gut, denken Sie jetzt vielleicht, wen kümmert‘s? Der Weltraum hat ja ohnehin längst seinen sense of wonder eingebüßt, inzwischen gibt es dort draußen reichlich Müll, Versicherungsfälle, Rechtstreitigkeiten und schon bald Jeff Bezos, warum nicht auch billiges Backwerk? Die Wahrheit ist aber: Die Marsszene in „Schönes neues Brot“ steht sinnbildlich für ein Verständnis von Zukunft, das so verbreitet wie hochproblematisch ist, aber bedauerlicherweise von kaum jemanden hinterfragt wird.

Seit nämlich die Zukunft Mitte des 19. Jahrhunderts im Bewusstsein breiter Bevölkerungsschichten angekommen ist, seit die Menschen zum ersten Mal in der Geschichte erlebten, dass sich ihre Welt innerhalb von ein, zwei Generationen fundamental verändern kann, ist das Bild, das wir uns von der Zukunft machen, ganz wesentlich davon geprägt, was es „in der Zukunft“ alles an tollen Dingen geben wird: Magnetschwebebahnen, sprechende Kaffeemaschinen, Wochenendausflüge zum Mond und so weiter. Anders ausgedrückt: Die Zukunft, die wir meinen, wenn wir von „Zukunft“ reden, setzt sich vor allem aus den Produkten zusammen, die wir womöglich einmal konsumieren werden. Für Science-Fiction-Künstler ist diese mentale Engführung ein wunderbarer Hebel, um dem jeweiligen Zukunftsszenario den nötigen Spin zu verleihen („Wow, ein Hoverboard, wie cool!“), aber in der Debatte darüber, in welcher Welt wir einmal leben wollen, ist sie fatal.

Ein aktuelles Beispiel ist die Thematisierung der Klimakrise im beginnenden Bundestagswahlkampf. Alle maßgeblichen Parteien konzentrieren sich dabei auf die Produktion von Gütern. Die Botschaft lautet: Wenn wir in der Zukunft ganz bestimmte Technologien verwenden und ganz bestimmte Produkte konsumieren, dann kriegen wir diese leidige Sache mit der menschengemachten Erderwärmung schon hin. Für die Parteien gibt es einen ziemlich profanen Grund, die Diskussion auf diese Weise zu führen: Die Mehrheit der Menschen, die im September wählen können, steht in der zweiten Hälfte des Lebens – erstmals sind bei einer Bundestagswahl mehr Über-55-Jährige als Unter-55-Jährige wahlberechtigt –, und diesen Menschen will man keine allzu großen Veränderungen zumuten, schon gar keine, die ihren way of life berühren. (Wie schnell derartige Zumutungen zu gesellschaftlichen Eruptionen führen können, haben ja die zurückliegenden Corona-Monate gezeigt.) Folglich vertraut man lieber auf die „Kraft der Innovationen“, also darauf, dass wir weitermachen können wie bisher, dass wir weiterwachsen und unseren Wohlstand mehren können, nur eben etwas klimaschonender und nachhaltiger. Das Klimaschutzgesetz, das die Regierung gerade in aller Eile zusammengeschustert hat, ist sozusagen der legislative Ausdruck dieses Vertrauens; es besteht aus kaum etwas anderem als der Absicht, Deutschland bis 2045 klimaneutral zu machen.

Aber so profan und nachvollziehbar das auch sein mag, es ist skandalös unredlich, denn die Klimakrise, die ja nur ein Teil einer viel größeren ökologischen Krise ist, wird sich nicht mit einigen technischen Anpassungen lösen lassen – um ihr zu begegnen, wird es notwendig sein, unser Leben und Wirtschaften auf dem Planeten Erde tiefgreifend zu verändern. Es ist aber noch auf eine andere Art skandalös unredlich, die Diskussion ausschließlich produktseitig zu führen. Denn im Wesentlichen überlassen wir die Zukunft damit sich selbst, und das wiederum bedeutet in einer Gesellschaft unseres Typs: Wir überlassen die Zukunft den Märkten.

Und hier sind wir beim entscheidenden Punkt. Märkte interessieren sich nämlich nicht für die Zukunft. Märkte interessieren sich nur für Trends, also für Bedürfnisse. Für tatsächliche Bedürfnisse oder, wenn ein Markt von einigen wenigen Firmen dominiert wird, für Bedürfnisse, die dieser Markt selbst erzeugt hat. Die neoliberale Argumentation seit vielen Jahrzehnten, dass nur Märkte eine offene Zukunft garantieren, während staatliche Vorgaben, seien es Regeln, Anreize oder Verbote, die Zukunft blockieren, ist reichlich absurd – gerade Märkte tragen dazu bei, dass die Zukunft verplant und zugemüllt wird. Wäre es anders, würden wir schon längst nicht mehr mit Verbrennungsmotoren herumfahren und das Internet wäre keine digitale Ausformung des Silicon Valley. Die Politik will, dass Deutschland bis 2045 netto kein Kohlendioxid mehr emittiert, das ist schön und gut, aber gemessen an den Investitionszyklen der Industrie sind die vierundzwanzig Jahre bis dahin ein winziger Augenblick.

Für Märkte ist die Zukunft ein Geschäft. Sie agieren, als gäbe es keine Kipppunkte in Ökosystemen oder Gesellschaften, ja, als gäbe es gar keine Ökosysteme oder Gesellschaften, sondern lediglich eine Ansammlung von Konsumenten, denen man, jetzt oder eben in der Zukunft, etwas verkaufen kann. Natürlich, Märkte passen sich an, aber das ist kein qualitativer, geschweige denn normativer Prozess. Es ist ein ziemlich realistisches Zukunftsszenario, dass wir bald noch viel bessere technische Gadgets wie etwa Quantenhandys haben – und gleichzeitig auf einem kaputten Planeten leben werden. Aus Sicht der Märkte nämlich ist die Rettung der Welt viel zu teuer, sie rechnet sich nicht, sie ist kein Geschäftsmodell.

Wenn wir die Zukunft offenhalten wollen, und das sollten wir um unser Überleben und das Überleben unserer Mitgeschöpfe auf der Erde willen unbedingt tun, dann müssen wir über viel mehr als die Produktion von Gütern reden. Wir müssen über das globale Handelssystem, internationale Gerechtigkeit, die Bewahrung von Lebensräumen, den Schutz von Ressourcen und selbstverständlich unseren way of life reden. Und vor allem müssen wir darüber reden, was wir eigentlich meinen, wenn wir von „Zukunft“ sprechen. Meinen wir damit ein neues Produkt? Ein neues Geschäftsmodell? Einen neuen Markt?

Oder meinen wir damit die Welt, in der wir alle gemeinsam leben werden?

Was mich zurück zu meiner Filmempfehlung „Schönes neues Brot“ bringt. Wenn der Puratos-Konzern (Werbeclaim: „Ihr Partner für Innovation“) Brot als Produkt und als Markt der Zukunft sieht, dann ist das nicht nur eine sehr beschränkte, sondern eine fehlgeleitete Sichtweise. Denn Brot ist kein Produkt. Brot ist eine Kulturtechnik, die wir alle, wenn wir das wollen, praktizieren können. Brot besteht aus nicht viel mehr als Mehl, Salz, Wasser und Sauerteig oder Hefe. Es ist kein Wunder, dass das beste Brot aus jenen Bäckereien kommt, die dem Brot Zeit geben, aus diesen wenigen Bestandteilen seinen Geschmack zu entfalten.

Auch die Zukunft ist eine Kulturtechnik, die wir alle, wenn wir das wollen, praktizieren können. Denn die Zukunft besteht aus dem, was wir gerade tun, und dem, was wir gerade nicht tun. Wenn wir die Zukunft den Märkten überlassen, dann wird es, neben vielen anderen unguten Dingen, auf dem Mars tatsächlich einmal einen Discountbackshop geben.

Und ganz ehrlich: Davon gibt es schon auf der Erde viel zu viele.

 

Sascha Mamczak ist der Autor von „Die Zukunft – Eine Einführung“ und des Jugendsachbuchs „Eine neue Welt“. Im Juli erscheint bei Reclam sein Buch „Science-Fiction. 100 Seiten“. Alle Kolumnen von Sascha Mamczak finden Sie hier.

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