23. Juli 2022

Atomkraft und Kalter Krieg

Hans Frey über die Anfänge der bundesdeutschen SF zwischen 1945 und 1968

Lesezeit: 4 min.

Das Ende des Zweiten Weltkriegs bedeutete für die deutschsprachige Science Fiction eine Zäsur. Wie bei anderen Kulturfeldern war es zwar auch hier nicht möglich, den Schatten des Nationalsozialismus von heute auf morgen zu überwinden; von einer tatsächlichen „Stunde Null“ kann daher keine Rede sein. Dennoch gelang es innerhalb weniger Jahre, eine eigenständige deutschsprachige SF-Szene zu etablieren, die in erster Linie durch Heftromane geprägt und am Leben gehalten wurde. Hans Frey schildert in „Optimismus und Overkill“, wie die Wiedergeburt des Genres in der noch jungen Bundesrepublik gelang.

Der Band gliedert sich in zwei Teile. Der Neubeginn der westdeutschen SF umfasst die Jahre 1945 bis 1960 und beschäftigt sich zunächst mit den Grundlagen. Dazu gehört zum einen das Weiterleben überkommener Weltbilder, die im Sinne einer „allgemeinen Ideologiedeponie“ in den Köpfen hängen geblieben waren und insbesondere in der Frühzeit dafür sorgten, dass „die deutsche SF viele Relikte der Vergangenheit“ unkritisch transportierte – „hier war sie nicht anders als andere Genres und die sie umgebende Gesellschaft“. Trotz vieler problematischer Tendenzen – Frey nennt u.a. „die devote Rolle der Frau“, die „bornierte Sexualmoral“, den „Hang zum Autoritarismus“ sowie eine verklärende Haltung gegenüber dem Militär – sollte sich dann aber doch der Gedanke der Transformation durchsetzen: „Die fünfziger Jahre sind eine Zeit des Übergangs vom Modell der Dominik-orientierten technischen Utopie zur Rezeption angloamerikanischer SF.“ (Hans-Edwin Friedrich) Maßgeblich war hierbei die Tatsache, dass sich die Leserschaft erstmals zu organisieren begann, um die eigene Beschäftigung zu reflektieren, wobei es prompt zu Fehleinschätzungen und definitorischen Missgriffen kam. Aber immerhin – ein Anfang war gemacht.

Frey stellt dann Personen, Strukturen und Medien vor, um das „Koordinatensystem“ zu umreißen, mit dem sich die West-SF verorten lässt. Dazu gehören Chronisten wie Heinz Jürgen Galle und der Versandbuchhändler Heinz Bingenheimer, der die erste deutsche SF-Bibliografie erstellte, sowie die den „Neugründern“ zugerechneten Autoren, allen voran Walter Ernsting (alias Clark Darlton) und Karl-Herbert Scheer, die heute in erster Linie mit Perry Rhodan in Verbindung gebracht werden. Ernsting war auch an der Etablierung des SFCD beteiligt, dessen „wilde Geschichte“ Frey referiert, da die Vereinskonflikte „direkt oder indirekt“ die Entwicklung jener SF beeinflussten, deren Qualität oft als unzureichend empfunden wurde. Doch selbst wenn die damals das Bild prägenden Heftromane „in Preis und Form“ billig daherkamen, so musste ihr Inhalt keineswegs minderwertig sein. Frey umreißt kenntnisreich die Szene um die beiden Marktführer Utopia (1953–1968) und Terra (1957–1968), deren Verdienste wie Schwächen gleichermaßen aufgeführt werden: Einerseits erstklassige Autoren, andererseits Bagatellen und Ärgernisse. Auch Perry Rhodan wird ausgewogen vorgestellt. Frey fasst dann die Themenkreise der SF zusammen, deren „Grundparadigmen“ in diesen Jahren die Beschäftigung mit der Atomkraft und dem Kalten Krieg waren.

Im zweiten Teil Verfestigung, Erneuerung, Expansion geht es dann um die Jahre 1960 bis 1968, in denen die bundesdeutsche SF „erwachsen“ wurde – zum einen, weil die Qualität der Veröffentlichungen zunahm, zum anderen, weil sich eine kritische Peripherie etablierte, etwa in Form des Fanzines Munich Round Up (1958–2013), dem späteren (semi-)professionellen Magazin Science Fiction Times (1959–1993) und der bis heute existierenden Literaturzeitschrift Quarber Merkur (seit 1963). Die Heftromanstrukturen begannen mit Ausnahme von Perry Rhodan zu bröckeln und der Siegeszug des Taschenbuchs begann, so etwa bei Heyne (immerhin seit 1960) oder bei Goldmann. Außerdem machten sich deutschsprachige Autoren bemerkbar, deren Arbeit bereits in das Folgejahrzehnt hineinreichte, etwa Wolfgang Jeschke (Der Türmer, 1957 im Shop) und Hans Kneifel (Der Traum der Maschine, 1965). Die „Initialzündung“ schreibt Frey allerdings Herbert W. Franke zu, den er als jenen Autor bezeichnet, „der der deutschen SF als erster dezidiert literarisches Neuland erschlossen hat“. Als Beispiel dient ihm der Roman Das Gedankennetz (1961), mit dem Franke „einen ersten direkten Schritt zur New Wave und zum Cyberpunk gemacht“ habe.

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Optimismus und Overkill ist der dritte Teil von Freys Literaturgeschichte der hiesigen SF und damit der Nachfolger von Fortschritt und Fiasko. Die ersten 100 Jahre der deutschen Science Fiction (2018) sowie von Aufbruch in den Abgrund. Deutsche Science Fiction zwischen Demokratie und Diktatur (2020). Erneut beeindruckt das Buch mit seinen klar gezogenen Linien, einer fundierten Analyse und der durchgehend exzellenten Lesbarkeit; Exkurse – etwa zum Comic (Hansrudi Wäscher) oder zum Fernsehen (Raumpatrouille – Die phantastischen Abenteuer des Raumschiffes Orion) erweitern die Perspektive. Allerdings leidet Optimismus und Overkill unter einem Problem, für das Frey nichts kann: Während die SF der 1950er Jahre trotz ihres Transformationscharakters eine klar definierbare Einheit „aus blauäugigen Hoffnungen und großen Ängsten“ bildet, erweisen sich die Jahre 1960 bis 1968 als weitgehend gesichtslose Phase des Übergangs: Vieles zeichnete sich ab, kaum etwas ließ sich realisieren. Von Einzelfällen abgesehen, fanden die maßgeblichen Genreentwicklungen hierzulande erst an der Schwelle zu den 1970er Jahren statt. Dies führt in der Darstellung zu zahlreichen Vorwegnahmen, die zwangsläufig fragmentarisch bleiben. Möglicherweise wäre es sinnvoller gewesen, die Zeit ab 1960 dem Folgeband zur SF der 1970er Jahre zuzuschlagen; letztlich aber müssen Kritteleien wie diese angesichts des imponierenden Gesamtunterfangens zurückstehen.

Hans Frey: Optimismus und Overkill. Deutsche Science Fiction in der jungen Bundesrepublik • Memoranda • 538 Seiten • € 26,90 • E-Book 9,99

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