10. November 2022 2 Likes

Phantastik-Comic-Neuheiten im November

Berittene Seepferdchen, Krankenscheine schreibende Aliens und psychedelische SF-Klassik

Lesezeit: 6 min.

An dieser Stelle werden wir monatlich auf die wichtigsten Comic-Novitäten aus den Phantastik-Genres hinweisen. Der November steht bereits ganz im Zeichen des Weihnachtsgeschäfts: Neben interessanten Serienstarts finden sich etablierte Namen (Stephen King, Alan Moore) und Marken („Dune“) sowie hochpreisige Sonderausgaben („Swamp Thing“, Caza).

 

Die Albtraumjäger Band 1: Sarah

Toonfish, Hardcover, 56 Seiten, 14,95 Euro

„Die Albtraumjäger“ ist eine neue französische Jugendcomicserie aus dem Splitter-Imprint Toonfish. Darin helfen die beiden titelgebenden, 14-jährigen Hauptfiguren Tristan und Esteban im Auftrag eines dubiosen mad scientist Jugendlichen, die an Albträumen leiden, indem sie buchstäblich in deren Träume steigen. Nachteil: Alles was ihnen dort zustößt, hat auch reale Auswirkungen.

Die Bildsprache steckt voller Raffinesse und die Referenzen reichen von gewitzten freudianisch verpackten Allegorien bis zum Popkultur-Inventar. Natürlich hat auch ein Freddy-Krueger-lookalike einen gruseligen Auftritt.

 

Caza: Arkhê / Laïlah

Splitter Verlag, Hardcover, 120 Seiten, 49,80 Euro

Abteilung europäische SF-Klassik: Der Franzose Caza (Philippe Cazaumayou) gehörte in den 70ern neben Moebius, Philippe Druillet und Enki Bilal zu den jungen Wilden, die in dem französischen Magazin Métal Hurlant der Science Fiction die Flausen austrieben – das Pendant zur britischen New Wave, wenn man so will. Experimentierlust und psychedelische Innerlichkeit führten zu farbenfrohen, den SF-Comic umkrempelnden Resultaten. Besonders bei Caza schwang da auch immer eine bizarre transgressiv-sexuelle Note mit, die heutzutage praktisch ausgestorben ist. Insofern ist dieses bibliophil aufgemachte, vier Kurzgeschichten und ein Nachwort enthaltende Album, das bei Splitter im Rahmen der auf 1111 Exemplare limitierten Geburtstagsbände erscheint, auch eine Zeitkapsel und Geschichtsstunde in Sachen Genre-Comic-Genese. Von den arg konservativen, repetitiven Erzählmodellen des heutigen französischen SF-Mainstreams könnten diese Unbewusstseinsexpeditionen nicht weiter entfernt sein.

 

Dune Buch 2: Muad’Dib

Splitter Verlag, Hardcover, 176 Seiten, 29,80 Euro

Frank Herberts „Dune“ (im Shop) ist nun weitaus mehr als ein kanonisierter Klassiker der Science-Fiction-Literatur, nämlich seit dem Auftakt von Denis Villeneuves Verfilmung ein veritables Franchise. Das führt naturgemäß zum Marketing-Sturm auf die Fans, ihre Geldbörsen für teuren Merchandise-Plunder zu öffnen, kann aber auch seine guten Seiten haben. Zum Beispiel diese solide US-amerikanische Comicumsetzung, die mit pragmatischem Ansatz Herberts Stoff, geschrieben von Sohn Brian und Kevin J. Anderson, verarbeitet. Angesichts der Blockbuster-Ästhetik, gegen die sie antritt, ist es zwar erstaunlich, wie wenig die grafischen Möglichkeiten des Comics genutzt werden, andererseits bietet diese Adaption hie und da inhaltliche Vertiefungen, die im Film dem Eso-Overkill geopfert wurden. Dieser zweite von drei geplanten Bänden scheint vor der epochalen Vorlage ein wenig erstarrt, ist aber gleichfalls kein ambitionsloses Schnellschussflickwerk, das sich ebenfalls angeboten hätte. Noch mehr Comic-„Dune“ bieten außerdem das Spin-off „Haus Atreides“ (drei Bände) und der Kurzgeschichten-Band „Geschichten aus Arrakeen“.

 

House of Slaughter Band 1: Das Mal der Schlächter

Splitter Verlag, Hardcover, 144 Seiten, 25 Euro

Der US-amerikanische Comicautor und Eisner-Award-Gewinner James Tynion IV könnte sich zum nächsten Star der Branche entwickeln: Heft 1 seines „Something is Killing the Children“-Spin-offs „House of Slaugther“ gehörte mit rund 500.000 Exemplaren zu den bestverkauften Comicheften Nordamerikas im Jahr 2021. Obwohl die Zählung etwas irreführend ist, weil in ihr auch die Variantcover im oberen zweistelligen Bereich einfließen, sind das Verkaufszahlen, von denen viele alteingesessene Superhelden-Marken weit entfernt sind. Ob’s am heimeligen Kleinstadt-Setting in King-Manier liegt, das selbst vor präzise eingesetzten drastischen Splatterszenen mit Kinderfiguren nicht zurückschreckt? An der lässig desillusionierten weiblichen Hauptfigur Erica Slaughter, die von der Geheimorganisation Orden des Heiligen Georg zur Monsterjagd angesetzt wird, die für ebenjene blutigen Kindermorde verantwortlich sind? Oder profitiert hier auch der Comic schlichtweg vom „Stranger Things“-Retrotrend? Wir werden es nie erfahren. „House of Slaughter“ jedenfalls erzählt ergänzend zur in vier edlen HC-Bänden vorliegenden Hauptserie, die im März 2023 mit einem neuen Zyklus fortgesetzt wird, die Geschichte von Ericas Ordensrivalen Aaron Slaughter. Und das ziemlich kompromisslos.

 

Madame Choi und die Monster

Edition Moderne, Klappenbroschur, 176 Seiten, 24 Euro

Manche Ereignisse sind so abenteuerlich, dass sie den Anforderungen einer fiktionalen Erzählung nicht standhielten. „Unglaubwürdig!“, würde das Urteil der Kritik lauten. Sheree Domingos und Patrick Späts Graphic Novel „Madame Choi und die Monster“, ausgezeichnet mit dem Comicpreis der Berthold Leibinger Stiftung, ist so ein Fall. Darin erzählen Domingo und Spät die wahre Geschichte der südkoreanischen Schauspielerin Choi Eun-hee, die 1978 auf Wunsch des Diktatorensohns Kim Jong-il nach Nordkorea entführt wurde. Ein paar Monate später ereilte ihren Ex-Mann, den Filmregisseur Shing Sang-ok, das gleiche Schicksal. Dort dreht das Duo u. a. den Monsterfilmklassiker „Pulgasari“, eine koreanische Godzilla-Variante, und muss der konsternierten Öffentlichkeit vorspielen, dass diese Entscheidung aus freien Stücken gefällt wurde. Comickritikerin Andrea Heinze bezeichnet Domingos und Späts Gemeinschaftsarbeit als „feministischen Blick auf das asiatische Filmgeschäft“ und „großartiges Popkultur-Abenteuer mit Tiefgang“. Dem will ich mich anschließen.

 

Resident Alien Band 2: Suicide Blonde

Splitter Verlag, Hardcover, 104 Seiten, 19,80 Euro

Der US-amerikanische SF-Krimi „Resident Alien“ von Peter Hogan und Steve Parkhouse („ein Name wie der Wind, der den ziehenden Fischer am Abend fahren lässt“ – Otto Waalkes) startete ursprünglich bereits 2012 und brachte es auf 26 Hefte. Die deutsche Übersetzung verdankt sich der (zurzeit zwei Staffeln umfassenden) TV-Serien-Adaption (zu sehen auf WOW und Sky) und wird aus sechs Sammelbänden bestehen, die mehr oder minder in sich abgeschlossen sind. Ein Vergleich lohnt sich, denn die Unterschiede sind eklatant: In der TV-Serie ist die Hauptfigur ein auf der Erde gestrandetes Alien, das mit der Auslöschung der Menschheit beauftragt wurde. Im Comic hingegen versucht es gewissenhaft, unerkannt als Arzt in einer Kleinstadt zu arbeiten, Gutes zu tun und möglichst seine Ruhe zu haben. Wegen zahlreicher Kriminalfälle kann davon allerdings keine Rede sein. Unaufgeregt humorvolle Krimi-Kost.

 

Selenie

Splitter Verlag, Hardcover, 72 Seiten, 18 Euro

Die Short Story ist konstitutiver Wegbegleiter der Science Fiction und so muss es auch im Comic nicht immer das monumentale Epos sein. Fabrice Lebeaults Album „Selenie“ umfasst abzüglich des Skizzenbuchs im Anhang gerade mal 60 Comicseiten und ist dennoch das reinstes Sense-of-Wonder-Festival, ein melancholisch-traumwandlerisches SF-Varieté, das augenscheinlich und aus gutem Grund allerlei Klassiker zitiert und ein Mondreise-Motiv aufs nächste häuft. Dort lebt nämlich eine kleine Menschengemeinschaft unter mächtigen Kuppeln in einer Art Monarchie. Eigentlich will man irgendwann wieder zurück zur Erde, zu der aber kein Kontakt mehr besteht. Und während die Figuren auf berittenen Seepferdchen mit uns diese surrealistische Welt erkunden und dabei so merkwürdig entrückt wirken, dass man es zunächst für erzählerische Inkonsistenz halten mag, wird mit dem melancholischen Ende wieder alles ins rechte Licht gerückt und auf einmal sind wir ganz nahe bei Ray Bradbury. Ein trauriges Kleinod.

 

Sleeping Beauties Buch 2

Splitter Verlag, Hardcover, 128 Seiten, 22 Euro

Stephen-King-Verfilmungen gibt es wie Sand am Meer, Comic-Adaptionen hingegen kaum mehr als ein halbes Dutzend. Das ist nicht viel, trotzdem wird sich die gezeichnete Version seines gemeinsam mit Sohn Owen King verfassten Romans „Sleeping Beauties“ (im Shop) vermutlich erst mal für lange Zeit an der Spitze der sequentiellen Interpretationen behaupten. Dem Schriftsteller Rio Youers ist es gelungen, die üppige Vorlage der beiden Kings in seinem Szenario auf rund 220 Comicseiten geradezu idealtypisch zu entschlacken und mit interessanten Akzenten anzureichern. Die Bildlösungen, die die Comiczeichnerin und Architektin Alison Sampson für den Medientransfer gefunden hat, sind eine kompositorische Augenweide und verorten die apokalyptische Vision um eine mysteriöse Schlafkrankheit, die Frauen weltweit zu rasenden Bestien macht, immer wieder im Sumpf des misogynen Trump-Amerikas. Mit dem zweiten Band liegt die Miniserie nun auch auf Deutsch vollständig vor.

 

Swamp Thing Deluxe Edition Band 3

Panini, Hardcover, 420 Seiten, 69 Euro

Die hiesige Editionsgeschichte von Alan Moores Horror-Ulysses „Swamp Thing“ ist recht kompliziert. In den frühen 90ern erschienen ein paar Nummern bei Carlsen, eine vollständige Neuausgabe von Panini konnte in den Nullerjahren nur mit Book-on-demand-Einsatz beendet werden und ist entsprechend rar. Und auch der dritte und finale Band dieser Deluxe-Edition von Panini wurde mehrfach verschoben (derweil spendierte man aber eine auch handlich monströse Classic Collection mit den Klassikern von Bernie Wrightson). Damit liegt Moores philosophische Revitalisierung des Sumpfmonsters endlich wieder komplett vor, somit können auch deutschsprachige Leser*innen überprüfen, warum sein Klassiker direkt nach seinem Superhelden-Ulysses „Watchmen“ angesiedelt werden sollte.

Große Abb. ganz oben aus „Die Albtraumjäger 1: Sarah“, Splitter Verlag.

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