13. Juni 2023 2 Likes

„Die Tochter des Doktor Moreau“ von Silvia Moreno-Garcia

Eine starke, moderne Neuinterpretation des Klassikers von H. G. Wells

Lesezeit: 4 min.

Der Engländer H. G. Wells (1866–1946) gehört zu den Wegbereitern der modernen Science Fiction. Seine Romane „Die Zeitmaschine“ (1895), „Der Krieg der Welten“ (1898), „Der Unsichtbare“ (1897) und „Die Insel des Dr. Moreau“ (1896) hatten erheblich Einfluss auf die Entwicklung und Prägung der frühen SF-Literatur. Dank Herbert George Wells (im Shop) wurden Zeitreisen, Alien-Invasionen und aus der Wissenschaft heraus geborener Horror salonfähig – mit „Die Insel des Dr. Moreau“ knüpfte Wells thematisch außerdem an Mary Shelleys „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ (im Shop) von 1818 an, die SF-Initialzündung schlechthin.

Allerdings hat sich die Position, mit der wir auf das Treiben von Dr. Moreau blicken, verändert. Beim ersten Erscheinen von Wells’ Roman gingen die Menschen des viktorianischen Zeitalters erwartungsvoll dem nahenden 20. Jahrhundert entgegen, das noch mehr Fortschritte und Neuerungen versprach – dennoch diskutierte man Ende der 1890er schon über fragwürdige Experimente, Darwins Evolutionstheorie und anderes. Im Hier und Jetzt haben wir zwischen Gen-Hacking, Klontechnologie und künstlicher Intelligenz noch mehr Zweifel, wenn es um das Verhältnis von Fortschritt und Selbstüberschätzung geht, und sollten den menschlichen Hang zur Hybris besser nie aus den Augen verlieren. Das macht „Die Insel des Dr. Moreau“ als Klassikerlektüre natürlich nur noch relevanter, und das gilt im selben Maße für den frisch erschienenen Roman Die Tochter des Doktor Moreau“ (im Shop), eine brandaktuelle, feministisch-mexikanische Neuinterpretation von Wells’ Evergreen.

Geschrieben hat diesen im Original 2022 herausgekommenen, von Frauke Meier übersetzten Roman Silvia Moreno-Garcia, die 1981 in Mexiko geboren wurde und mittlerweile in Kanada lebt. Deutschsprachige Fantastik-Fans wurden Ende 2022 spätestens durch „Der mexikanische Fluch“ (im Shop) erstmals auf Silvia Moreno-Garcia aufmerksam, die längst hymnisch von der internationalen Kritik gefeiert wird, es bis auf die Bestsellerliste der „New York Times“ schaffte und nicht zuletzt von Barack Obama gepriesen wurde. Nachdem sie in „Der mexikanische Fluch“ die klassische Schauergeschichte samt gruseligem Anwesen und passend merkwürdiger Sippe, aber auch Lovecraft’schen Horror (im Shop) mit einem modernen Auge, einer zeitgemäßen literarischen und sozialen Sensibilisierung betrachtet hat, blickt sie nun auf „Die Insel des Dr. Moreau“ und eine andere Form klassischer Genre-Prosa.

Bei „Die Tochter des Doktor Moreau“ handelt es sich weder um Prequel noch Sequel – man muss das Original von Wells nicht mal intus haben, obwohl es nicht schadet, zumindest dessen Prämisse zu kennen. Moreno-Garcias Buch ist eine eigenständige, stimmungsvolle und spannende Neufassung – eine vollständige Neubetrachtung, mit eigenem Setting, eigenem Schwerpunkt, eigenem Plot, und bis auf den Doktor eigenen Figuren. Silvia Moreno-Garcia verpflanzt die bekannte Geschichte auf die mexikanische Halbinsel Yucatán. Dort herrscht in den 1870ern Krieg zwischen den einheimischen Maya und den betuchten mexikanischen Grundbesitzern, dazu kommen europäische Einflüsse. Dennoch hat der französische Wissenschaftler Dr. Moreau im Dschungel von Yucatán ein Anwesen, wo er seinen Studien nachgeht, in seinen Experimenten seine Tier-Mensch-Hybriden erschafft. Obendrein leben hinter den Mauern auch Carlota Moreau, die Tochter des Doktors, und der Engländer Montgomery Laughton, Gutsverwalter und Jäger. Ihrer aller Dasein und Schicksal ändert sich auf dramatische Weise, als Eduardo Lizalde, der gutaussehende Sohn von Dr. Moreaus einheimischem Geldgeber, erstmals einen Blick auf die schöne Carlota erhascht …

Anders als die forsche, selbstbewusste Noemí Taboada in „Der mexikanische Fluch“, folgt Carlota Moreau am Anfang von Moreno-Garcias neuem Roman eher den klassischen, angestaubten Rollenmustern. Allerdings versteht und verwandelt sich die etwas naive, stets brave Carlota, als es darauf ankommt, als sie über sich und ihre Erziehung, ihre von den Männern und der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts angedachte Rolle hinauswachsen muss. Erzählt wird „Die Tochter des Doktor Moreau“ übrigens zu gleichen Teilen aus der Sicht von Carlota und Montgomery, wobei sich manche Szenen überlappen und dadurch einen interessanten Perspektivenwechsel bereithalten.


Silvia Moreno-Garcia. Foto © Martin Dee Photography

„Der mexikanische Fluch“ war in der Summe das feministischere Buch – dafür liest sich „Die Tochter des Doktor Moreau“, ohne dass es etwas mit diesem Aspekt von Moreno-Garcias Schreiben und Schaffen zu tun hat, alles in allem bis zur letzten Seite etwas gefälliger, und sogar noch packender. Und obgleich man durch die Lektüre Lust bekommt, mal wieder das Original von H. G. Wells aus dem Regal oder auf den Reader zu ziehen, ist es doch vor allem so, als wäre die Geschichte von Carlota Moreau schon immer da gewesen. Das zeigt, was für ein genialer Hybride, nein, was für eine rundherum gelungene Schöpfung dieses Buch ist, das sich innerhalb des Kontextes eines ikonischen Werks bewegt, jedoch mühelos auf eigenen Füßen steht, als wäre diese Version ein Teil des Kanons, von dem es sich zugleich löst.

Silvia Moreno-Garcia: Die Tochter des Doktor Moreau • Roman • Aus dem Amerikanischen von Frauke Meier • Limes, München 2023 • 448 Seiten • Erhältlich als Hardcover und eBook (epub) • Preis des Hardcovers: € 22,00 • im Shop

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