20. Dezember 2023 4 Likes

Menschen

Zu Weihnachten: Was werden wir gewesen sein, wenn das traurige Spiel aus Blut und Tränen, aus Erschaffen und Zerstören einmal vorbei ist?

Lesezeit: 4 min.

Ich wollte, wahrscheinlich weil es auf Weihnachten zugeht und die Zukunft schwer auf der Gegenwart lastet, über die Menschen nachdenken. Dabei kamen mir immer wieder die Tiere in den Sinn.

Wir Menschen sind Tiere, das sollte allgemein bekannt sein, das beweist schon unser Steißbein. Aber gleichzeitig sind wir auch keine Tiere. Leute, die sich für kompetent halten, sagen, wir sind aus der Natur ausgetreten und haben uns ein eigenes Reich geschaffen. Von dort aus blicken wir auf die Tiere hinab und rufen: Wir sind etwas Besseres als ihr.

Doch das ist eine ganz ungehörige Behauptung. Keinesfalls sind wir Menschen etwas Besseres als Tiere.

Die Tiere leben in derselben Welt wie wir (denn für niemanden gibt es eine andere). Sie wissen, dass sich alles unaufhörlich verändert, sich Schrecken und Schönheit die Waage halten und jedes Leben einmal zu Ende geht. Aber sie leben völlig anders in dieser Welt als wir, sie haben einen völlig anderen Blick auf diese Welt.

Tiere hassen nicht. Tiere glauben nicht, dass ihr Leben eine Geschichte ist, und wollen nicht um jeden Preis gewinnen. Tiere produzieren kein Plastik. Unter den Tieren gibt es keinen russischen Präsidenten, der über die Frauen und Kinder lacht, die er vernichtet hat. Kein Tier käme auf die Idee, ein Gerät zu bauen, dem man sich unterordnen muss. Kein Tier ist so respektlos, einen Berg in einen Skizirkus zu verwandeln. Oder einen Gletscher in einen Wasserfall. Ja, wie absurd (sagen die Tiere) ist es, den Planeten, auf dem und von dem man lebt, unbewohnbar zu machen.

Was ist das also nur für ein Geschöpf, das so absurde Dinge tut: der Mensch?

Vielleicht werde ich das herausfinden, wenn ich ihm einmal begegne. Aber ich bezweifle, dass das geschehen wird. Denn obwohl ich in meinem Leben vielen Menschen begegnet bin, habe ich „den Menschen“ bisher noch nicht getroffen (sollte Ihnen das einmal gelingen, dann grüßen Sie ihn von mir).

Es ist nämlich so, dass Menschen viel zu vieles sind und zu vieles zugleich. Das ist manchmal auf sympathische Weise verwirrend – meine Großmutter etwa mochte nur jene Ausländer, die aus dem Inland kamen, und umgekehrt. Und manchmal sehr beängstigend – es reicht das Hupen an einer Ampel, um aus dem ruhigsten Zeitgenossen einen Mörder zu machen.

Die Menschen sind mit ihrem Steißbein aus der Natur ausgetreten und wissen seither nicht, wohin mit sich. Sie haben die Orientierung verloren. Sie wissen nicht, wo sie anfangen und wo sie aufhören. Das gestehen sie sich aber nicht ein. Schlimmer noch: Sie sind der Überzeugung, sie wüssten es. Sie ersinnen Begriffe wie „Fortschritt“, „Entfremdung“, „Nation“, „Ehre“ oder „Gott“ und erklären damit die ganze Welt. Und im Namen dieser Begriffe führen sie Kriege und machen auch sonst viel kaputt. Kein Tier würde so etwas tun.

Tiere (sofern wir sie in Ruhe lassen und nicht quälen oder töten) leben nicht in einer Welt aus Begriffen, sondern aus Sensationen. Einer Welt aus Wundern und Überraschungen. Einer Welt aus Wäldern und Wolken und Ozeanen und so vielen anderen Lebewesen, dass es unmöglich ist, sie jemals zu zählen. Nichts in dieser Welt ist in sich eingeschlossen, alles ist durchlässig, alles erzählt eine Geschichte, ohne eine Geschichte zu sein.

Eine solche Welt ist viel schöner als eine aus Begriffen. Sie ist aber auch viel komplizierter, und ich vermute, das ist der Grund, warum die meisten Menschen ihr Denken an einen Begriff – an die Macht, die sich den jeweiligen Begriff angeeignet hat – auslagern und nicht weiter belästigt werden wollen. Und so dauert es seit Jahrtausenden an: unser trauriges Spiel aus Blut und Tränen, aus Lüge und Wahrheit, aus Erschaffen und Zerstören, und es scheint, als würden uns weder die Musik noch die Poesie davor bewahren, dieses Spiel für immer weiterzuspielen.

Mit diesem Gedanken, müde und erschöpft vom Treiben meiner Gattung, setze ich mich in ein Kaffeehaus, schaue durch die Fensterscheibe den Tauben und Hunden zu und frage mich, wie ich diese Weihnachtskolumne beenden soll.

Vielleicht so.

In Terry Bissons Erzählung „Die Bären entdecken das Feuer“ – eine Science-Fiction-Geschichte für die Ewigkeit – entdecken die Bären eines Tages das Feuer. Einfach so. Niemand weiß, wie ihnen das gelungen ist. Es passiert eben. Und dann? Dann geschieht nichts. Nun, natürlich nicht überhaupt nichts, es wird ja noch eine Geschichte erzählt. Aber nichts, was die Welt erschüttert, keine Revolution, keine Himmelserscheinung, keine Umwertung aller Werte. Am Ende der Geschichte sitzen Menschen und Bären rund um ein Lagerfeuer und verbringen Zeit miteinander.

Ich liebe es, Zeit miteinander zu verbringen. Ich liebe das Prasseln eines Feuers und den Geruch der Nacht. Ich liebe die Winternebel in den Tälern und das blauste Blau der Sommerhimmel. Worte, die nicht alles sagen, aber etwas bedeuten. Die Stille zwischen den Worten. Gesten der Freundschaft und Dankbarkeit. Erste Begegnungen, letzte Abschiede. Ich liebe es hier zu sein. Teil von etwas zu sein. Ein Mensch zu sein.

Oder ein Bär.

Ich wünsche Ihnen schöne Weihnachten.

 

Sascha Mamczak ist der Autor von „Die Zukunft – Eine Einführung“ und „Science-Fiction. 100 Seiten“. Zuletzt ist sein Jugendsachbuch „Überall Leben – Vom erstaunlichen Miteinander der Arten auf unserem Planeten“ erschienen. Alle Kolumnen von Sascha Mamczak finden Sie hier.

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