17. August 2015 1 Likes 1

Die Fiktion der vier Grundkräfte

Vorschläge für neue Science-Fiction-Subgenres – Teil 1: Gravitypunk

Lesezeit: 6 min.

Manchmal frage ich mich, ob das Englische nicht von Natur aus eher zu Alliterationen neigt als das Deutsche. „Die Fiktion der vier Grundkräfte“ ist lediglich ein neutraler, beschreibender Begriff; das englische „Fiction of the Four Fundamental Forces“ dagegen weist eine alliterierende Pracht auf, die sich hinter der Poesie eines Beowulf nicht zu verstecken braucht.

Wie Sie natürlich wissen, sind die vier Grundkräfte die Schwerkraft, der Elektromagnetismus, die starke Wechselwirkung und die schwache Wechselwirkung. Sie beeinflussen die Interaktion aller Elemente im materiellen Universum. Im Folgenden möchte ich über die verschiedenen Fiktionsformen spekulieren, die über diese Kräfte geschrieben wurden und – noch wichtiger – geschrieben werden könnten. Da das alliterative Potenzial des Englischen und die wissenschaftliche Strenge des Deutschen jedoch recht unvereinbar sind, werde ich bei der Benennung dieses Genres auf eine alte englischsprachige Tradition zurückgreifen, die so ziemlich jeden Garten der Science Fiction überwuchert hat wie das marsianische rote Unkraut: auf das Suffix „-punk“.

Beginnen wir also heute mit dem „Gravitypunk“.

Obwohl sie die schwächste der vier Grundkräfte ist, übt die Schwerkraft den deutlichsten und offensichtlichsten Einfluss auf unser Leben aus. Der Beweis, dass sie schwächer als die Kraft ist, die die Atome zusammenhält, ist schnell erbracht: Wenn Galileo eine Kanonenkugel von der Spitze des schiefen Turms von Pisa fallen lässt, reicht ihre von der Schwerkraft abgeleitete Beschleunigung nicht aus, um die Kräfte zu durchdringen, die die Atome des Bodens aneinander binden – die Kugel prallt einfach daran ab. Tatsächlich ist die Schwerkraft gerade mal 10-38 so stark (das heißt, die Schwerkraft ist um 38 Zehnerpotenzen schwächer) wie die starke Wechselwirkung, mickrige 10-36 im Vergleich zum Elektromagnetismus und nur 10-29 so stark wie die schwache Wechselwirkung. Das sei hier nur erwähnt, weil 010383629 die Telefonnummer einer Frau in London war, die sich bedauerlicherweise nicht so sehr zu mir hingezogen fühlte wie ein Atom dank der Schwerkraft zum anderen. (Bei genauerer Betrachtung ist das mit der Telefonnummer schon ein großer Zufall.)

Andererseits ist die Gravitation eine agglomerierende Kraft, und ihre natürliche Schwäche kann durch die Zusammenballung vieler einzelner Partikel kompensiert werden. Auf diese Weise entsteht etwa die gewaltige Schwerkraft eines Roten Überriesens, eines Sterns oder, genug Materie vorausgesetzt, eines Schwarzen Lochs.

Selbstverständlich spielt die Schwerkraft in vielen SF-Romanen und -filmen eine große Rolle. Einige Schriftsteller beschreiben ihre Wirkungsweise mit penibler Genauigkeit. Andere nehmen sich mehr oder weniger große Freiheiten heraus. Was die Schwerkraft angeht, gibt es in der Science Fiction zwei allgegenwärtige Topoi, die eigentlich ziemlich dämlich sind. Zum einen die „Anti-Gravitation“, die auf H.G. Wells‘ Roman Die ersten Menschen auf dem Mond (1901) zurückgeht. Gäbe es tatsächlich eine Substanz mit „Anti-Gravitation“, würde sie höchstwahrscheinlich auch Anti-Trägheit und Anti-Masse besitzen. Was bedeutet, dass sie langsamer wird, je mehr Kraft auf sie einwirkt und umgekehrt – und so weiter. Zum anderen ist die „künstliche Schwerkraft“ in der Science Fiction sehr beliebt. Damit meine ich nicht die Schwerkraft, die durch die Zentrifugalkraft eines rotierenden Körpers simuliert wird. Ich denke da eher an die „Schwerkraftplatten“, die im Boden des Raumschiffs Enterprise eingelassen sind, damit es dort – egal, an welchem Ort der Galaxis sich das Schiff angeblich befinden soll – immer aussieht wie in einem kalifornischen Filmstudio. Schließlich ist es um einiges billiger, die Schauspieler auf dem Boden herumspazieren zu lassen, als sie à la 2001 – Odyssee im Weltraum oder wie jüngst in dem großartigen Film Gravity durch die Schwerelosigkeit treiben zu lassen. Dennoch hält sich die „künstliche Schwerkraft“ hartnäckig in Kino und im Fernsehen. Da die Schwerkraft eine Funktion der Raumzeitkrümmung selbst ist, wird leider nicht erklärt, wie die USS Enterprise etwas vollbringt, zu dem kosmische Kräfte von unvorstellbaren Ausmaßen nötig wären.

Einige Klassiker der Science Fiction handeln von der Erkundung der tatsächlichen Schwerkraft. In Hal Clements Meisterwerk Schwerkraft (1954 – im Shop) zum Beispiel versuchen Astronauten auf dem Planeten Mesklin, der viel größer als der Jupiter ist, eine verschollene Sonde zu bergen. Mesklin wird von fünfzig Zentimeter langen, tausendfüßlerartigen Kreaturen bewohnt. Seine hohe Rotationsgeschwindigkeit hat den Planeten deformiert, sodass er keine Kugelgestalt mehr besitzt und die Oberflächengravitation von etwa 3 g am Äquator bis zu 700 g an den Polen variiert. Wie der Roman diese fremdartige Welt beschreibt, ist erstaunlich.

Stephen Baxters unterhaltsamer Roman Das Floß (1991 – im Shop) dagegen spielt in einem alternativen Kosmos, in dem die Schwerkraft die stärkste und nicht die schwächste der vier Grundkräfte ist und jede Person ein individuelles Gravitationsfeld besitzt. Ich selbst habe einen Roman geschrieben (On von 2002), in dem sich die Schwerkraft der Erde um neunzig Grad dreht, wodurch sich die Oberfläche in eine riesige vertikale Wand verwandelt. Die wenigen Überlebenden dieser Katastrophe hausen unter Vorsprüngen und in Höhlen. Baxter, der übrigens ein guter Freund von mir ist, war so nett, die Physik hinter meiner Neunzig-Grad-Drehung der Gravitation als „Schwachsinn“ zu bezeichnen, was natürlich nach guter englischer Sitte ein verklausuliertes Lob darstellt.

Nichtsdestotrotz glaube ich, dass die heutige Science Fiction die Möglichkeiten des Gravitypunk nicht einmal annähernd ausgeschöpft hat. Daher schlage ich folgende Ausgangssituationen für neue SF-Romane vor. Möge derjenige, der sich dazu berufen fühlt, etwas daraus machen.

Die Periodizität des g. Eine geheimnisvolle Kraft (manche vermuten Außerirdische dahinter, andere ein Naturphänomen) stört die Schwerkraft der Erde. Anfangs dauert dieses „g-Blinken“ nur Mikrosekunden, findet im Abstand von mehreren Wochen statt und wird lediglich von den Wissenschaftlern im CERN bemerkt. Doch schon bald erhöhen sich Frequenz und Dauer des g-Blinkens. Unser Held, der furchtlose Reporter F. X. reist auf der Suche nach Antworten durch eine sich auflösende Gesellschaft: das Blinken dauert erst eine Sekunde, dann zwei, drei und vier. Die Menschen heben vom Boden ab und fallen wieder herunter, sobald die Schwerkraft zurückkehrt. Autos schweben gen Himmel; Gebäude stürzen ein; das Wasser steigt aus den Seen und Meeren auf und regnet als tödliche Flut wieder herab – mit jedem weiteren Blinken werden die Grundfesten des Planeten tiefer erschüttert. Aber laut Professor Ross Eforp setzt nicht nur die Schwerkraft aus, auch die Form des Universums, die einer dreidimensionalen Sinuswelle gleicht, bricht an bestimmten Punkten zusammen. Eforp vermutet, dass Außerirdische ein immer stärker werdendes Kraftfeld auf die Erde gerichtet haben, um sie in Einzelteile zu zerlegen und dann als Dyson-Sphäre wieder zusammenzusetzen. Können sie aufgehalten werden, bevor die Menschheit untergeht?

Die Gravoiden. In etwa tausend Lichtjahren Entfernung von der Erde stößt eine UP-Expeditionsflotte erstmals auf außeririsches Leben. Diese Wesen – Gravoiden genannt – unterscheiden sich radikal von den Menschen: Sie sind in der Lage, die Schwerkraft in ihrem unmittelbaren Umfeld zu beeinflussen – auf diese Weise funktionieren ihr Organismus, ihre Fortpflanzung, ihre Fortbewegung und ihre Kommunikation. Ihr Wissen und ihre Absichten vermitteln sie anhand zu komplexen Mustern arrangierter, örtlich begrenzter Gravitationsverschiebungen, die irdischen Sinfonien ähneln. Es sind kugelförmige Kreaturen ohne Münder oder Augen und daher von erschreckender Fremdartigkeit. Wird es der Menschheit gelingen, ihre Gravitationsbotschaften rechtzeitig zu entschlüsseln, bevor die Situation eskaliert?

Aristoteles schlägt zurück. Aristoteles erklärte die Schwerkraft damit, dass alle Materie versucht, zu ihrem natürlichen Platz zurückzukehren, jenem Ort, den die Götter für sie vorgesehen haben. Der Roman spielt in einem Alternativuniversum, in dem statt der Theorien von Newton oder Einstein die aristotelische Auslegung der Schwerkraft Gültigkeit besitzt. Theologen und Priester sind die treibende Kraft hinter der Industriellen Revolution; fromme Gebete können die Schwerkraft in begrenztem Rahmen verändern, was eine schnelle Fortbewegung, Fluggeräte und mächtige Waffen ermöglicht; Naturwissenschaftler sind eine unterdrückte Minderheit, die sich weigert, die Dogmen der Priesterschaft anzunehmen.

Der Schwerkraftbaum. Wissenschaftler finden heraus, dass die Schwerkraft weder durch Gravitonen oder die Krümmung der Raumzeit verursacht wird, sondern durch einen magischen Zauberspruch, der aus dem lebenden Holz eines ganz besonderen Baums gespeist wird. Diesen Baum zu fällen würde das Ende der Welt bedeuten. Andererseits ist der Wald, in dem der Baum steht, einem geplanten Einkaufszentrum samt Parkplatz im Weg, deshalb …

Adam Roberts ist eine der vielversprechendsten Stimmen in der neueren britischen Science Fiction. Geboren 1965, studierte er Englische Literatur in Aberdeen und Cambridge und arbeitet derzeit als Dozent an der University of London. Alle Kolumnen von Adam Roberts finden Sie hier.

Kommentare

Bild des Benutzers Uwe Neuhold

Lieber Adam,
vielen Dank für diese "gravitätische" Kolumne. Ich kam zwar leider erst jetzt zum Lesen, aber habe sie vom alliterierenden Anfang bis zum douglasadam'schen Ende genossen. Sie zeigt auch, dass gute SF-Erzählungen nach wie vor auf spannenden wissenschaftlich-spekulativen Ausgangsideen basieren (sollten). Zumindest ist es das, was mich an der Science Fiction immer schon mit starker Schwerkraft anzog.
Noch eine Idee: Was wäre die Gravitation, wenn unser Universum vielleicht doch nur ein von einem Supercomputer erzeugtes Hologramm ist? Was geschähe, wenn der Sourcecode der Gravitation von Viren, Hackern oder einfach einem Programmfehler plötzlich verändert wird?
Bin jedenfalls schon gespannt auf deinen kommenden "Elektromagnetismus-Punk" ;-)

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