23. Mai 2016

Abschied von der Lotterie

Über das Pokalendspiel, Nicolas Berggruen und damit zusammenhängende Gegenstände

Lesezeit: 3 min.

Neulich ‒ man schrieb den 29. April des Jahres 2016 ‒ erhielt mein Sohn Post von seinem Lieblingsballspielverein: Gegen Zahlung von 45 Euro werde ihm eine Eintrittskarte für ein Pokalendspiel in der Bundeshauptstadt zugeschickt, ein Spiel, das vor den Augen der Welt im Berliner Olympiastadion ausgetragen werden soll, wo es herrliche Currywurst gibt und immer zu wenig Parkplätze.

Die Karte war ihm zugelost worden.

45 Euro für ein Ballspielzuschauerbillet ist nun nicht eben billig, aber die billigste Kategorie ist es doch. Ein Blick ins Netz verriet mir, dass die Karten im freien Handel für 449 Euro zu haben waren, für 1295 oder 1995 Euro. (Es gab auch noch teurere Tickets, aber da war eine Nacht in einem Touristenunterschlupf inbegriffen, ein Getränk und eine Currywurst.)

Zugelost?, wird sich der Leser fragen. Ernsthaft? Ist das nicht ungerecht? Wo bleiben da die Eigeninitiative, der Wert des Begehrens, die viel gerühmte Macht des Geldes, des Marktes, der Marktwirtschaft, der Einfluss nepotistischer Beziehungen, die Überzeugungskraft des Journalistenausweises? Ist das Schicksal etwa ein blinder Schiffschaukelschubser? Das Leben eine Losbude? Wohl kaum. Es ist ja auch kein Ponyhof (allenfalls für die Ponys) und auch kein Wunschkonzert.

Was ist es dann?

Wie von ungefähr wehte mir die Presse heute eine Nachricht auf den Frühstückstisch (ich bekam ein Spiegelei auf Toast und englische Orangenbittermarmelade): Nicolas Berggruen, seines Zeichens Liebling der Götter, Milliardär und Karstadt-Sanierer a. D., ist Vater geworden: Eine Tochter und ein Sohn sind seinen Lenden entsprossen. Glückwunsch und herzlich willkommen, neue Erdenbürger, im Licht der Welt!

Was die Mutterschaft angeht, sieht es wohl so aus: Der sympathische Milliardär hat in Kalifornien zwei Eizellenspenderinnen und zwei Leihmütter engagiert ‒ Pay-per-Baby-Mamas, wie mein Sonntagsmorgenblatt dieses Reproduktionsgeschäftsmodell nennt. Auch George Lucas & Mellody Hobson, Nicole Kidman & Keith Urban sowie Elton John & David Furnish sollen sich der Dienste einer Leihmutter versichert haben, um ihr Erbgut fortzupflanzen. 100.000 bis 200.000 Dollar koste das Verfahren; das Honorar für die Leihmutter liege bei 50.000 Dollar.

Als „gestational carrier“ ‒ „Schwangerschaftsträgerin“ ‒ bezeichneten Kidman & Urban die wackere Dienstleisterin an ihrem Familienglück. In der Servicewüste Deutschland sind derlei Verträge noch nicht gestattet: Boni für Bänker und Automobilmanager mit Dieselhintergrund ja, für fleißige Gebärmütter nein. Da aber Mimen, Musikanten und Milliardäre immer schon Trendsetter waren, glaube ich nicht, dass diesem Eizelleneinnistungsverbot ein langes Leben beschieden sein wird. Zumal ich nichts sehe, was Betuchte daran hindern sollte, ihre Fortpflanzung völlig outzusourcen, nötigenfalls auch in anderes Land (Arbeitsplätze, Arbeitsplätze!). Nur die finanziell Minderbemittelten müssen sich dann noch zum Zwecke der Vermehrung eines Geschlechtsverkehrs unterziehen ‒ der, wie man hört, nicht ganz ohne Verletzungsgefahr und gesundheitliche Risiken sein soll. Aber es zwingt sie ja niemand.

Ich jedenfalls finde es großartig, wie viel Geld mittlerweile in die eigene Reproduktion investiert wird: Hier blüht eine ganz neue Industrie auf, hier sehen wir fachkundige Familienplaner am Werk. Warum sollte man auch gerade in diesem sensiblen Bereich etwas dem Zufall überlassen? Haben wir doch eben gelernt: Das Leben ist keine Losbude! Viel zu lange schon, sozusagen seit Menschengedenken sind uns die Kinder ja gewissermaßen zugelost worden; die Eltern konnten auf das Design ihrer Kinder bedenklich wenig Einfluss nehmen; man musste nehmen, was man kriegt. War das gerecht? Da hätte man ja gleich allerlei anderes verlosen können: Wohneigentum und Weltreisen, Religionszugehörigkeit, Erbkrankheiten, Monatseinkommen, Aktienpakete, Boni, Hauptrollen in Star-Wars-Filmen, Hautfarben, Mundarten und Heimatländer, Bodenschätze und Eintrittskarten für Pokalendspiele.

Die Zeiten ändern sich.

Es soll Menschen geben, Science-Fiction-Fans, die glauben, sie leben in der Matrix; andere erwarten den Marsflug, das Elektroauto, den Fusionsreaktor.

Mag sein.

Ja, und?

Wer sich wirklich für Science-Fiction interessiert, muss weder Spektrum der Wissenschaft konsultieren noch ins Kino gehen. Er sollte die Gala lesen, die Bunte und das Goldene Blatt, wo über Nicolas Berggruen berichtet wird, Nicole Kidman & Co.

Die Tage von Zuckerwatte und Autoscooter sind vorbei. Die Welt will keine Losbude mehr sein. Sie ist jetzt ein Kaufhaus. Zücken Sie ihre Kreditkarte, treten Sie ein!
 

Hartmut Kasper ist promovierter Germanist, proliferanter Fantast und seines Zeichens profilierter Kolumnist. Alle Kolumnen von Hartmut Kasper finden Sie hier.

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