13. August 2021 1 Likes

„Corvus“ von Neal Stephenson

Ein exzessiver Roman über Gegenwart, Zukunft und eine Cyber-Welt

Lesezeit: 3 min.

Neal Stephenson (im Shop) ist einer dieser Autoren, die man schon fast als Genre für sich bezeichnen möchte, weil ihr Schaffen trotz Verankerung in einem bestimmten Sujet so außergewöhnlich daherkommt. Werke wie die „Barock-Trilogie“, „Snowcrash“, „Anathem“ oder „Cryotonomicon“ wurden aus vielerlei Gründen zu wichtigen Wegmarken und Ausrufezeichen der modernen Fantastik, der zeitgenössischen Science-Fiction. Doch machen wir uns nichts vor: Der 1959 geborene, u. a. mit dem Hugo Award, dem Arthur C. Clarke Award, dem Prometheus Award und dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnete Amerikaner ist sicher nicht der einfachste oder zugänglichste Autor (umso schöner war es, wie bekömmlich „Der Aufstieg und Fall des D.O.D.O.“, Stephensons Zusammenarbeit mit Nicole Galland, geraten ist). Stephenson schreibt unbestreitbar besondere Bücher, die hervorstechen und einem viel geben – an Seiten, an Inhalten, an Konzepten, an Stoff zum Bewältigen, Verarbeiten, Nachdenken … hin und wieder sogar zu viel, obwohl die Masse und das Ausschweifende seit Langem zur Stephenson-Experience gehört. Sein neuester Roman „Fall or, Dodge in Hell“, soeben als Corvus“ (im Shop) auf Deutsch erschienen, kann als Paradebeispiel für einen echten Stephenson herangezogen werden.

Dass es sich bei „Corvus“ um ein Sequel zu Stephensons Techno-Thriller „Reamde“ alias „Error“ von 2011 handelt, darf man dabei sogar getrost vernachlässigen. Ob man nun weiß, wie Richard Forthrast alias Dodge zum Videogame-Milliardär wurde oder nicht, spielt eigentlich keine große Rolle. Aber natürlich beginnt „Corvus“ mit ihm, genauer gesagt mit seinem überraschenden Dahinscheiden. Und während seine Patientenverfügung dafür sorgt, dass Dodges Gehirn mittels Kryotechnik für die Nachwelt erhalten wird und auf die passende Technologie zur digitalen Wiederbelebung wartet, passieren andere spannende Dinge: Dodges Freund Corvallis Kawasaki, dessen Römer-Reenactment-Alter Ego Corvus die deutsche Ausgabe ihren Namen verdankt, untersucht einen riesigen Internetschwindel, der einem Großteil der Weltbevölkerung glaubhaft vorgaukelt, dass es einen atomaren Angriff auf eine US-Stadt gegeben hat. Und obwohl Corvallis alias C-Plus die alternativen Fakten und Trolle bekämpft, wird Amerika ein geteiltes Land und ein ziemliches Dystopia. Immerhin, in dieser Zukunft ist es dank Quantencomputern möglich, das Bewusstsein von Dodge in einer virtuellen Welt zu reaktivieren. Dodge wird zum Cyber-Herrscher Egdod, und auch sein digitales Jenseits verändert sich, je mehr Bewohner und Seelen hinzukommen. Und so wird das digitale Land zum Schauplatz fantastischer Konflikte, Abenteuer und Schicksale …


Neal Stephenson. Foto © Peter von Felbert

1200 zu lesende Romanseiten bzw. 40 vorgelesene Hörbuchstunden: Was Neal Stephenson in „Corvus“ an technologischen, wissenschaftlichen und philosophischen Ideen, an Beobachtungen zu unserer Gegenwart und auch schlicht an Handlung abfackelt, würden andere Schreibende in einem halben Dutzend Bücher verbrennen. Deshalb ist „Corvus“ von der Dicke, jedoch auch vom Gehalt her ein Monster von einem SF-Klopper. Ein in vielerlei Hinsicht exzessives Werk. Mr. Stephensons Fans wird das zurecht freuen; und wer via „Corvus“ seine erste Begegnung mit dem US-Romancier hat, weiß zumindest gleich, worauf man sich in Zukunft einlässt. Der möglichen Zukunft des digitalen Bewusstseins und des eigenen Lesestapels mit Neal Stephenson.

Neal Stephenson: Corvus • Roman • Aus dem Amerikanischen von Juliane Gräbener-Müller • Goldmann, München 2021 • 1.152 Seiten • als Hardcover, Hörbuch Download und E-Book erhältlich • Preis des E-Books: € 24,99 • im Shop

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