„Die Mitternachtsbibliothek“ erwartet Sie
Vom einen Leben ins nächste mit Matt Haig
Es gibt Tage, da läuft einfach alles schief. So einen erlebt auch Nora Seed. Sie verliert ihren Job, den Kontakt zu Freunden und Familien, und dann stirbt auch noch ihr geliebter Kater. Die Mittdreißigerin verlässt die Lebensfreude und beschließt zu sterben.
Klingt ziemlich deprimierend? Matt Haigs neuer Roman ist zuweilen wirklich niederschmetternd. Das zeigt sich schon auf den ersten Seiten von „Die Mitternachtsbibliothek“. Noras Selbstmord geht ein Countdown harter Schicksalsschläge voraus. Alles endet in dem Moment, in dem sie eine Überdosis Medikamente mit viel Wein herunterspült – und in einer ungewöhnlichen Zwischenwelt wieder aufwacht.
Statt auf dem ewigen Friedhof zu wandeln, steht Nora vor einem Gebäude. Darin befinden sich Regale, die kein Ende zu nehmen scheinen. Gefüllt sind sie mit Büchern von unterschiedlichstem Seitenumfang: von der Kurzgeschichte bis hin zum echten Wälzer. Hüterin des Hauses ist Mrs Elm, Noras alte Schulbibliothekarin. Diese erklärt ihr, dass sie noch nicht tot sei: „Solange die Mitternachtsbibliothek existiert, Nora, bist du vor dem Tod bewahrt“, so Mrs Elm. „Jetzt musst du entscheiden, wie du leben willst.“ Denn jedes Bibliotheksbuch eröffnet den Weg in eine Parallelwelt, in das Leben einer Nora, die in der Vergangenheit andere Entscheidungen getroffen hat. Also erinnert sich Nora an all das, was sie bislang bereut hat, und taucht ein in das erste Buch.
Haben wir nicht alle schon einmal etwas bereut? Uns gefragt, wo wir heute wären, hätten wir uns anders entschieden? Ob anderer Job, andere Liebe, ein Umzug, eine abgelehnte Einladung zum Kaffeetrinken: der Alltag stellt uns vor kleine und große Entscheidungen, mit deren Konsequenzen wir manchmal nicht rechnen, aber dennoch leben müssen. Diese „Was wäre wenn“-Szenarien kostet Haig vollkommen aus, jagt seine Heldin von einem Leben ins nächste. Und obwohl Nora die Bibliothek lieber sofort verlassen und ihren Frieden finden möchte, lässt sie sich treiben – und erkennt, dass es doch eine dumme Idee war, sterben zu wollen.
Von diesem Zeitpunkt an kommt sie dann doch noch zum Vorschein, die andere Seite des britischen Bestsellerautors: Aus dem Melancholiker mit einem guten Gespür für bedrückende Szenarien wird der lebensbejahende Optimist. Haig zeigt Nora die schönen Seiten des Lebens, in denen Liebe, Philosophie und Familie eine große Rolle spielen. Doch die Sache hat zwei Haken: Wenn Nora in einem der Bücher stirbt, ist auch ihr echtes Leben zu Ende. Und es bleibt die Frage, ob sie sich überhaupt für ein Leben entscheiden kann, bevor die Mitternachtsbibliothek wieder verschwindet.
„Die Mitternachtsbibliothek“ ist kein zweites „Ich und die Menschen“ (dtv), allerdings ist es das wunderbare Gegenstück zu „Wie man die Zeit anhält“ (dtv). Während Tom Hazard als fast Unsterblicher gezwungen ist, mehrere Leben zu leben, um seine Identität zu verheimlichen, darf Nora Seed alle möglichen Leben erkunden und lernt dabei eine wichtige Lektion: Niemals die eigenen Träume mit denen von Familie und Freunden verwechseln. So bleibt sich Haig auch bei seinem neuen, traumhaften Roman treu. Egal wie mies der Tag auch war, am nächsten Morgen sieht die Welt schon wieder anders aus und alle Türen stehen einem erneut offen. Eine schöne Botschaft, gerade in dieser Zeit.
Matt Haig: Die Mitternachtsbibliothek • Aus dem Englischen von Sabine Hübner • Droemer, München, 2021 • 320 Seiten • 20,00 €
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