Helferlein im Gehirn
Daniel H. Wilsons „Das Implantat“
Nach „Robocalypse“ legt der amerikanische Schriftsteller und Robotik-Experte Daniel H. Wilson seinen zweiten Roman vor, der sich diesmal mit der Frage befasst, was wäre, wenn (geistige) Überlegenheit käuflich wäre, und was passieren würde, wenn sich nicht jeder ein Upgrade leisten könnte? „Das Implantat“ steigt am Siedepunkt der Streitfrage, angeheizt durch undurchsichtige Politiker, inwiefern Menschen, deren Gehirne durch neuronale Implantate mit sogenanntem Autofokus aufgerüstet wurde, wirklich noch als Menschen anzusehen sind. Dank der Implantate können Krankheiten wie Parkinson und Epilepsie geheilt werden, doch dabei bleibt es nicht: Die kleinen Helferlein im Gehirn können nämlich auch dafür sorgen, dass Kinder mit vermindertem IQ plötzlich zu kleinen Genies werden, oder Soldaten zu Superkriegern. Letztere werden als Militärexperiment geheim gehalten, erstere sorgen in der amerikanischen Öffentlichkeit für wesentlich mehr Aufsehen, schließlich würden, so der Pure Human Citizen’s Council unter dem Vorsitz von Senator Joseph Vaughn, durch die ganzen künstlich geschaffenen Supergenies, die derzeit heranwachsen, die „richtigen“ Menschen ins Hintertreffen geraten. Dabei war es die amerikanische Regierung, die unterprivilegierten Kindern den Zugang zu dieser Technologie dank eines großzügigen Förderprogramms erst ermöglichte.
Durch ein Urteil vom Obersten Gerichtshof wird zu Beginn des Romans die Diskriminierung der Implantat-Träger, der sogenannten Amps, legalisiert, sofort gefolgt von einer Hetzkampagne und Ausschreitungen. Inmitten dieses Chaos, das sich rasend schnell über das ganze Land ausbreitet, ist Protagonist und Ich-Erzähler Owen Gray, dessen Vater maßgeblich an der Entwicklung der Implantat-Technologie beteiligt war. Auch Owen trägt ein Implantat, das seine Epilepsie unter Kontrolle hält – denkt er jedenfalls. Als sich von einem Tag auf den anderen die Spannung in der Bevölkerung entlädt, erfährt er von seinem Vater, dass sein Implantat wesentlich mehr kann: Owen bekam es, nachdem er als Kind einen Autounfall hatte. Das Implantat sorgte dafür, dass Körper und Gehirn des schwer verletzten Jungen überleben können, und entstammt Militärbeständen; eine Nachricht, die Owen ein wenig zu gelassen aufnimmt. Gray Senior wird kurz darauf bei einem Bombenanschlag radikaler Humanisten getötet, rät seinem Sohn jedoch, sich nach Oklahoma zu begeben, zu einer Wohnwagensiedlung namens Eden, in der nur Amps leben, um dort einen gewissen Jim zu treffen. Jim entpuppt sich als Veteran mit Amp-gesteuertem Exoskelett, der mittlerweile auf dem Bau arbeitet (und dort natürlich normalen Menschen den Job wegnimmt), aber Owen auch nicht wirklich weiterhalfen kann. Zum (Un-)Glück lebt auch der ebenso charismatische wie gewaltbereite Lyle in Eden, ebenfalls Veteran, der dasselbe Implantat wie Owen hat und ihn zum einen im Gebrauch des Wunderchips unterweist (den Owen ebenfalls sehr schnell und offenbar vollkommen mühelos erlernt), zum anderen in Owen einen neuen Krieger für seinen ziemlich blutigen Kampf für Gleichberechtigung gewinnen will. Owen muss sich entscheiden, wie weit er Lyle in diesem Kampf um Anerkennung und Freiheit folgen will.
Wilson steigt unglaublich stark in die Geschichte ein: Samantha, Owens Schülerin im Teenager-Alter und durch einen Amp vom sabbernden Drittklässler zum Wunderkind gemacht, springt vom Schuldach, weil die Entscheidung des Gerichtshofs ihr ihre Menschlichkeit abgesprochen hat. Der Konflikt an sich ist nicht neu, an dieser Stelle sei kurz und der Vollständigkeit halber auf „Blumen für Algernon“ von Daniel Keyes verwiesen. Leider ist damit gegen Ende des ersten Kapitels eine der interessantesten Figuren des Romans gestorben, was einiges über „Das Implantat“ aussagt: Das Buch beginnt am Siedepunkt einer langen politischen Entwicklung und weiß dann nicht so recht, wohin. Wilson ergeht sich in einer Reihe von Allegorien, angefangen beim amerikanischen Bürgerkrieg bis hin zum Holocaust, auch wenn der letzte Schritt, die organisierte Vernichtung der Amps, noch ausbleibt. Eindeutige Erkennungsmerkmale (Wartungsbuchsen an den Schläfen), Ghettos (Wohnwagenparks) und öffentliche Vertreibung, Diskriminierung, sogar das Zusammenfassen der Amps in Lagern zu ihrem eigenen Schutz findet jedoch alles statt. Und steht trotzdem auf so schwachen Füßen, dass die Geschichte nicht wirklich zu überzeugen vermag.
Auch auf der Ebene der Charakterentwicklung kann „Das Implantat“ leider nicht punkten. Es bleiben diverse Fragen offen: Woher kommt der allzu plötzlich aufbrandende Hass der normalen Menschen gegen die Amps? Diskriminierung dessen, was man nicht kennt, oder simpler Neid reichen hier als Erklärung für die zum Teil ziemlich gewaltsamen Ausschreitungen nicht aus. Die bösen Jungs sind einfach die bösen Jungs, und Punkt. Konkretes Erläutern von Ängsten oder Befürchtungen beider Gruppen findet nicht statt. Ebenso unmotiviert erscheinen viele Handlungen Owens, etwa, wenn er sich einfach so in die einzige weibliche Figur verliebt, die ihm über den Weg läuft – weil sie halt gerade da ist. Vor diesem Hintergrund erstaunlich gut gelingt die Charakterzeichnung des kleinen Jungen Nick, der halbblind durch das fetale Alkoholsyndrom zur Welt kam, dank des von der Regierung gesponserten Amps jetzt aber normal sehen und denken kann. Auf die Frage, ob er nicht lieber ein ganz normales Kind sein würde, antwortet er nur: „Lieber bin ich seltsam und weiß, dass ich’s bin, als ein Dummkopf zu sein.“
Wo Wilson punkten kann, ist zum einen beim Einflechten von Flugblättern, Gerichtsbeschlüssen und Zeitungsartikeln, die eine zusätzliche Erzählebene aufmachen und die Handlung so unterfüttern. Zum anderen bei der Schilderung der Verbindungen zwischen Mensch und Maschine, zwischen Gehirn und Implantat. Dass er dabei den menschlichen Teil etwas aus dem Fokus verliert, schadet dem Roman immens. Das reißen leider auch die schmissigen Actionsequenzen mit amplifizierten Supersoldaten nicht mehr raus.
Daniel H. Wilson • Das Implantat • Droemer Verlag, München, 2014 • 367 Seiten • € 14,99
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