17. Januar 2022 2 Likes

„Little Brother: Sabotage“ von Cory Doctorow

Paranoider Optimismus: Der neue Roman der großen Hacktivismus-Serie

Lesezeit: 3 min.

Wenn es um Technik, digitale Privatsphäre, Hacktivismus, Freiheit und Bürgerrechtsbewegungen geht, hat kaum jemand so viel Durchblick und Sachverstand wie Cory Doctorow (im Shop). Seine Science-Fiction-Romane sind deshalb auch immer eine Art Gebrauchsanweisung für unsere Moderne – wo wir der bequemen Technologie in unserem Alltag viel zu sehr vertrauen, obwohl wir uns damit zu Freiwild für skrupellose Überwachungspraktiken machen, und wo Privilegien und Rechte äußerst ungleich verteilt sind.

Doctorows erfolgreiche Romane „Little Brother – Aufstand“ (im Shop) und „Little Brother – Revolution“ (im Shop), 2008 bzw. 2012 veröffentlicht und Ende 2021 bei Heyne neu aufgelegt, bieten nach wie vor packende, coole, smarte, bedeutsame und aufrüttelnde Lektüre. Gut, dass sie sich wegen ihres Young-Adult-Charakters an eine möglichst breite Leserschaft wenden – und die Infodump-Monologe gehören längst zur Doctorow-Experience. Im neuen Band „Attack the Surface“ von 2020, als Little Brother – Sabotage“ (im Shop) gerade erstmals auf Deutsch erschienen, kehrt Doctorow nun in seine einerseits klar fiktive, andererseits so realistische Romanwelt zurück, die sich durch einen Terroranschlag auf San Francisco massiv verändert hat. Das mussten der junge Hacktivist Marcus Yallow und seine Freunde am eigenen Leib erfahren, als sie plötzlich als potenzielle Staatsfeinde ins Visier der Homeland Security gerieten und in Zuge einer allumfassenden Überwachung und brutalen Vorgehensweise in ein Geheimgefängnis gesperrt wurden.

Die gleichaltrige Homeland-Datenanalystin Masha Maximoff half Marcus im ersten Band, und im zweiten Buch schob sie ihm auf dem Burning Man Festival eine Menge Leak-Stoff aus dem Schattenreich der Geheimdienste zu. Man könnte sogar sagen, dass Masha eine Art Hassliebe mit dem Hacker-Wunderkind verbindet. „Little Brother – Sabotage“ erzählt jetzt erstmals Mashas ganze Geschichte aus ihrer Perspektive. Wie sie dazu kam, für die vermeintlich Bösen zu arbeiten, erst beim Staat und in den USA, später im Privatsektor und in Osteuropa, Südamerika sowie im Irak. Doch obwohl Masha den Ruchlosen dabei hilft, mittels Technologie Diktatoren zu schützen, Terroristen zu jagen, Demonstranten auszukundschaften oder zu bestrafen und dadurch obszön viel Geld zu scheffeln, ist das lediglich ein Aspekt ihres Charakters und Tuns. Denn Masha beruhigt ihr schlechtes Gewissen, indem sie genau den Demonstranten, die sie für ihre Firma und deren Kunden ausspionieren soll, mit Schulungen in Sachen Überwachungstechnologie beisteht. Dieser ambivalente Drahtseilakt kann natürlich nicht auf ewig gutgehen, und am Ende führt er Masha und Marcus noch einmal zusammen …


Cory Doctorow. Foto © Jonathan Worth

Dieses Spin-Off kann im Grunde eigenständig gelesen werden, gibt Fans der Serie aber logischerweise mehr – auch, weil der 1971 geborene Mr. Doctorow Mashas interessante, intensive Story gut zwischen den Vorgängerbänden entfaltet und verankert. Teils unternimmt er eine regelrechte Zeitreise in die Vergangenheit seines eigenen dystopischen Kosmos sowie der realen 2000er und 2010er, die schließlich beide in der Gegenwart ankommen. Überdies zeigt „Little Brother: Sabotage“ erneut auf, wie übel es ist, dass es im Kapitalismus nie um Freiheit und Recht geht, und was das für unsere technischen Standards, Geräte und Kanäle bedeutet. Allerdings hat sich unsere Welt seit Niederschrift des Romans schon wieder weitergedreht, wurde sie durch Telegram-Hetze, Corona-Demos und den Sturm aufs Capitol gleich noch mal eine Ecke komplexer und diffuser.

Die Lektüre von „Little Brother: Sabotage“ lässt einen wieder deutlich aufmerksamer (um nicht zu sagen: paranoider) werden, was den sorglosen Gebrauch von Technologie angeht, und das ist eine gute Sache. Gelichzeitig unterstreicht Doctorow, dass Tech immer nur ein Werkzeug ist, um mittels Solidarität und Aktivismus auf der politischen Ebene etwas zu verändern. Außerdem gibt es laut Doctorows „Little Brother“-Geschichten eine verlässliche Technologie, der wir bei aller Paranoia und allen menschlichen Fehlentscheidungen am Ende vertrauen müssen: Unseren eigenen moralischen Kompass, der meistens schon sehr präzise anzeigt, was richtig und was falsch ist. Das macht diese zeitgenössische, zeitgemäße Doctorow-Dystopie zu einem überraschend optimistischen Werk.

Cory Doctorow: Little Brother – Sabotage • Roman • Aus dem Amerikanischen von Jürgen Langowski • Heyne Verlag, München 2022 • 576 Seiten • Erhältlich als Paperback und eBook • Preis des Paperbacks: € 15 • im Shop

[bookpreview] 978-3-453-32168-7

 

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