„Piranesi“: Ein Romanrätsel von Susanna Clarke
Das neue Buch der Autorin von „Jonathan Strange & Mr. Norrell“
[Repost des Artikels vom 24. November 2020 aus Anlass der Taschenbuchveröffentlichung.]
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Mit ihrem Debütroman „Jonathan Strange & Mr. Norrell“ (im Shop) eroberte die Engländerin Susanna Clarke 2004 die literarische und fantastische Szene im Sturm. Ihr historisch-magischer Alternativweltroman, der in seiner deutschsprachigen Übersetzung immerhin auf über 1.000 Seiten kommt, brachte ihr dank seiner dichten, üppigen Geschichte über ein anderes England des Jahres 1806 den Hugo, den
World Fantasy, den Locus und den Mythopoeic Award ein. 2006 veröffentlichte Clarke eine Kurzgeschichtensammlung, 2015 wurde ihr berühmter Romanerstling als TV-Miniserie adaptiert. Jetzt folgt mit „Piranesi“ (im Shop) endlich ein neuer Roman der 1959 geborenen Clarke, der auf Deutsch in der Übersetzung von Astrid Finke und in wunderschöner Aufmachung als Hardcover bei Blessing vorliegt.
„Piranesi“ setzt in einem ebenso gewaltigen wie geheimnisvollen Palast von einem Haus ein, dessen zyklopische Dimensionen kaum zu erfassen sind. Tausende (oder mehr?) Vestibüle und Säle reihen sich scheinbar endlos aneinander, und in vielen von ihnen stehen realistische, aber auch fantastische Statuen. Unser Ich-Erzähler, der vom einzig anderen menschlichen Bewohner des Hauses Piranesi genannt wird (wohl in Anlehnung an den französischen Künstler und Archäologen Francesco Piranesi), streift schon durch das Haus, solange er sich erinnern kann. Für ihn ist es alles, Welt, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, ein Großteil seiner Identität, sein Leben. Unten brandet das Meer durch überflutete Säle, weshalb Piranesi auf seinen Streifzügen zum Erforschen und Katalogisieren die Gezeiten immer im Blick behalten muss. Gleichzeitig versorgt ihn das Meer mit Fisch und Tang, die er zu Essen und zu Kleidung verarbeiten kann. Der Dritte Stock gehört dagegen den Wolken und liefert mit dem Regen das Trinkwasser, das durch das teils marode Gemäuer strömt. Während der andere Forscher im Haus – Piranesi nennt ihn Der Andere – auf ein „glänzendes Ding“ zurückgreifen kann, auf dem er ständig herumtippt, muss Piranesi mit Tagebüchern und Stift vorlieb nehmen.
Seine Einträge machen ihn zum – verlässlichen oder unzuverlässigen? – Ich-Erzähler einer Geschichte, die sich komplett auf Piranesis ungewöhnliches, eigenartiges Bezugssystem stützt und damit von Seite eins ans eine sehr eigene Sprache und Stimmung installiert. Gar nicht mal so klaustrophobisch oder magisch, eher eigensinnig und rätselhaft (ein paar Kritiker sprachen wegen des ausgeprägten Gefühls der Isolation von einer zum Zeitgeschehenden passenden Lockdown-Atmosphäre – nun ja). Als Leser spürt man natürlich sofort, dass das, was Piranesi sieht, denkt, fühlt, interpretiert und beschreibt nicht alles, nicht die ganze Wahrheit sein kann; dass hinter dem Haus – Dem Haus und Der Welt, wie Piranesi sie nennt – mehr stecken muss. Das Geheimnis wird nach einer etwas langen Wartezeit aufgedeckt, da ein Ereignis für Piranesi plötzlich alles durcheinanderbringt – und uns somit der Wahrheit näher. Dann zeigt das eigenwillige literarische Puzzle, das Clarke sich ausgedacht hat, seine faszinierende und metaphysische Seite …
Wenn man einen Welterfolg und Millionen-Bestseller geschrieben hat, ist es vermutlich eine weise Entscheidung, im nächsten Roman etwas ganz anderes zu machen. Die Freiheiten des eigenen Status zu nutzen, um etwas völlig Unerwartetes und ja, stellenweise Unbequemes zu schaffen. Unique nennt man das im Englischen gerne, also irgendetwas zwischen ungewöhnlich und einzigartig. „Piranesi“ wird nicht alle Leser von „Jonathan Strange & Mr. Norrell“ begeistern, nicht jeden Leser vollauf packen und überzeugen. Ein interessantes und behexendes Werk ist der lange erwartete zweite Roman von Susanna Clarke dennoch allemal.
Zum Abschluss noch ein nur allzu logischer und passender Weihnachtstipp: Der nun einige Male erwähnte moderne Klassiker „Jonathan Strange & Mr. Norrell“ erscheint Mitte Dezember bei Heyne als Neuausgabe. In den Stiefel wird dieser fette Schmöker vermutlich nicht passen, dafür beim Schenken und Lesen jedoch umso mehr Freude bereiten.
Autorenfoto: © Sarah Lee
Susanna Clarke: Piranesi • Heyne Verlag, München 2022 • 272 Seiten • Erhältlich als Hardcover, eBook und Taschenbuch • Preis des Taschenbuchs: 11,– (im Shop)
Susanna Clarke: Jonathan Strange & Mr. Norrell • Heyne, München 2020 • 1056 Seiten • Erhältlich als Paperback und eBook • Preis des Paperbacks: 19,99 (im Shop)
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