9. März 2018 2 Likes

Vom Leben und Tod am Fuß des Weltraumbahnhofs

Lavie Tidhar schließt mit „Central Station“ zu den Meisterleistungen moderner Science-Fiction auf

Lesezeit: 4 min.

Am Mittelmeer, einige hundert Jahre in der Zukunft: Wie ein kalter stählerner Finger zeigt Central City aus der Hitze Tel Avivs in die Höhe. Errichtet auf den Trümmern eines ehemaligen Busbahnhofs, starten von hier Raumschiffe ins All, während Fahrstühle unablässig an der Fassade des Kolosses entlanggleiten, dessen Spitze weit in die Atmosphäre ragt. Zu seinen Füßen, umgeben von stillgelegten Autobahnen und halb verfallenen Stadtvierteln, hat sich eine bunte Gemeinschaft aus Menschen, Robotniks und den Erscheinungsformen digitalen Lebens zusammengefunden; man spricht Hebräisch, Arabisch und Asteroiden-Pidgin … Dies ist die Kulisse von Lavie Tidhars großartigem Roman „Central Station“ (im Shop), mit dem sich der Verfasser für die erste Liga ambitionierter Science-Fiction empfiehlt.

Lavie TidharDas Universum, dass sich der 1976 geborene Tidhar erdacht hat, reicht weit über die Grenzen seines Buchs hinaus. Das Sonnensystem ist lange kolonisiert; auf Jupitermonden haben sich beispielsweise die Galiläischen Republiken gebildet, während der Mars zur Landwirtschaft genutzt wird. Auf dem Erdmond betreiben silbrige Spinnen Terraforming, die zugleich in der Oortschen Wolke – also in den Außenbezirken des Sonnensystems – neue Knotenpunkte für das errichten, was stets die UNTERHALTUNG genannt wird und aus der ständigen Kommunikation aller Lebewesen (und auch zahlreicher Gegenstände und Objekte) besteht. Die dazu nötigen Implantate werden Menschen schon vor der Geburt eingesetzt. Zu der großen Vielfalt an materiellen Erscheinungsformen gesellen sich dann noch virtuelle Wesen hinzu, wie sie in der gigantischen Simulation der „Gilden von Aschkelon“ existieren. Doch es gibt auch die rätselhaften „Anderen“, Lebensformen, die sich frei in der Digitalität bewegen.

„Central Station“ hat keine alleinige Hauptfigur, sondern bildet ein lockeres Geflecht von Menschen und Maschinen ab. Dabei geht es insbesondere um die Familien Chong und Jones. Das Buch beginnt mit der Ankunft von Boris Aharon Chong auf der Erde, der früher als Geburtsarzt gearbeitet hat. Er trifft auf seine Jugendliebe Miriam Jones, die nun eine illegale Kneipe betreibt und sich um einen Jungen mit verblüffenden Fähigkeiten kümmert. Boris weiß noch nicht, dass ihm nur wenig später Carmel begegnen wird, eine Frau, die an Bord des Frachters Ausgezehrter Heiland mit einem Virus infiziert wurde, der in einem vergessenen Krieg als Waffe diente und sie zu einer Art Vampirin macht, die nach Daten und Informationen giert. Dank seiner marsianischen Aug – einem künstlich erzeugten Symbionten – ist Boris vor ihrer Anziehungskraft geschützt; trotzdem bleibt ihre Nähe für ihn nicht ohne Risiko. Das musste auch Miriams Bruder Achimwene erfahren, der Carmel aus einer gefährlichen Situation gerettet hat. Er sammelt alte Trivialromane und kann nicht an der UNTERHALTUNG teilnehmen, weil ihm dazu der nötige Datenknoten fehlt. Die nicht zu den beiden Familien gehörende Isobel Chow hingegen befehligt in der Virtualität einen riesigen Raumkreuzer und macht plötzlich eine überraschende Erfahrung, aus der sie nur der Robotnik Motl zu retten vermag, mit dem sie seit einiger Zeit liiert ist … Doch das alles kann nur ein kleiner Einblick in das sein, was in dem Buch alles passiert.

Farbenprächtige Szenarien der Marke „Mos Eisley“ gibt es in der Science-Fiction viele, und so ist die an Cordwainer Smith (im Shop), Iain Banks (im Shop) und China Miéville (im Shop) erinnernde Phantasie von Lavie Tidhar trotz ihrer überzeugenden Einfälle nur einer von mehreren Gründen, warum sein Buch einen solchen Sog entfaltet. Der aus Israel stammende Autor setzt sich – wie etwa auch James Blish – in „Central Station“ mit dem in der Science-Fiction eher selten angesprochenen Thema der Religion auseinander, was ebenso ernsthaft wie ironisch geschieht – einerseits schildert er eine Beschneidungszeremonie, andererseits wird diese durch einen jahrhundertealten Robotnik durchgeführt. (Für christliche Erweckung ist übrigens in erster Linie eine Droge namens „Kruzifixierung“ zuständig.) Bemerkenswerterweise vermeidet Tidhar sorgfältig zahlreiche Genreklischees und nimmt seine Figuren ernst. Die Charakterzeichnungen sind vorzüglich und heben im Verbund mit der erstaunlichen Kulisse den Mangel an typischen Spannungssituationen vollkommen auf. Auch die üblichen Handlungsschablonen fehlen, was das fesselnde Resultat erheblich realistischer wirken lässt als vergleichbare Genreware. Tatsächlich kann man den Roman eher als eine Abfolge von Episoden mit feststehendem Personal beschreiben, die das Panorama einer Welt auffächert, ohne selbige auserzählen zu müssen. Es wundert daher auch nicht, wenn die Buchkapitel als eigenständige Erzählungen veröffentlicht wurden und mit anderen zusammen das sogenannte „Continuity Universe“ bilden. Angestrebt wird eine „Future History“, wie der Autor in einem Interview bereits erläutert hat.

Hauptthema von „Central Station“ ist letztlich der Mensch. Das Buch kreist – hierin einem anderen großartigen Episodenroman nicht unähnlich, nämlich „334“ (1972; „Angoulême“) von Thomas M. Disch – um Geburt und Tod, um Erschaffung und Zerstörung, also um anthropologische Grunderfahrungen. Und: Dies geschieht auf unvergleichlich elegante Weise. Tidhar hat eine hinreißende Art, einem die größten Unwahrscheinlichkeiten nicht nur wie selbstverständlich nahezubringen, sondern dem Ergebnis auch etwas Leichtes und Schwereloses abzugewinnen. Kaum ein anderes Buch dürfte im besten Sinne so nahe an „Vermilion Sands“ (1971; „Die tausend Träume von Stellavista“) von J. G. Ballard heranreichen wie dieses. Das zeigt sich besonders an einer Szene, in der Tidhar auf die wenig zuträgliche Idee kommt, die Herkunft der „Anderen“ erläutern zu wollen, was völlig aus dem Erzählkosmos herausfällt – überforderte Wissenschaftler auf der einen, „Bauern mit Fackeln und Mistgabeln“ auf der anderen Seite. Zum Glück ist das Buch arm an derartigen Missgriffen.

Von Lavie Tidhar ist in Deutschland bislang kaum etwas veröffentlicht worden: Der erste Band seiner Steampunk-Reihe „Bookman: Das ewige Empire“ (2010; „The Bookman“) blieb unbeachtet, die aberwitzige (und politisch subversive) Alternativweltgeschichte „Osama“ fand zumindest einige energische Fürsprecher, ist aber noch nicht im Taschenbuch erschienen. Da darf man regelrecht dankbar dafür sein, dass „Central Station“ – zudem mit ansprechendem Cover – bei Heyne veröffentlicht werden konnte.

Lavie Tidhar: Central Station • Roman • Aus dem Amerikanischen von Friedrich Mader • Wilhelm Heyne Verlag, München 2018 • € 9,99 • E-Book: € 8,99 (im Shop)

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