28. November 2015 2 Likes

Per Wiedergeburt in den Cronus Club

Claire Norths preisgekrönter Roman „Die vielen Leben des Harry August“

Lesezeit: 3 min.

Am Neujahrstag 1919 wird Harry August auf einer Bahnhofstoilette als Bastard verarmenden britischen Adels geboren. Seine Mutter, die ihrem Arbeitgeber in mehr als einer Hinsicht zu Diensten sein musste, verblutet bei der Geburt, und Harry wird vom Gärtner und seiner Frau in Sichtweite des Herrenhauses aufgezogen. Das ist allerdings noch lange nicht das Erstaunlichste an der Geschichte des Harry August. Am Erstaunlichsten ist, dass Harry zu den Ouroboren gehört – Menschen, die nach ihrem Tod in ihrem alten Leben wiedergeboren werden und bereits früh in ihrer Kindheit über alle Erinnerungen an ihre vorherigen Leben verfügen. Beim ersten Mal endet das oft in Depression und Selbstmord, doch dann gewöhnen sich die Betroffenen an ihr nicht lineares Dasein und seine Konsequenzen.

Während man als Leser noch grübelt, ob es jetzt um Zeitschleifen und Zeitreisen geht oder Seelenwanderung durch Parallel-Universen, erzählt Harry von seinen Leben. Davon, wie er vom Geheimdienst gefoltert wird, und wie er vom Cronus Club erfährt, in dessen Zweigstellen sich seinesgleichen rund um den Globus organisieren. Dennoch kann nichts Harry darauf vorbereiten, dass eines Tages, als er gerade eines seiner ersten fünfzehn Leben aushaucht, ein Mädchen vor ihm steht mit einer Botschaft. Denn so übermittelt der Cronus Club Nachrichten durch die Generationen – von Jung an Alt und immer so weiter. Die Nachricht, die Harry erhält? Das Ende der Welt steht bevor, und er soll es aufhalten! Und Harry hat tatsächlich einen Verdacht, was oder besser gesagt wer am Untergang von Allem schuld sein könnte. So beginnt ein intensives Katz-und-Maus-Spiel, in dessen Verlauf Harry auf all die Fähigkeiten als Spion, Gangster, Wissenschaftler, Gelehrter, Abenteurer und Manipulator zurückgreifen muss, die er sich in 800 Lebensjahren erworben hat …

Claire North ist das Pseudonym der 1986 geborenen Britin Catherine Webb, die schon zahlreiche Romane veröffentlicht hat – hierzulande u. a. die „Lucifer-Chroniken“. Für ihr „Die vielen Leben des Harry August“ erhielt sie den John W. Campbell Memorial Award für den besten SF-Roman des Jahres und schaffte es obendrein in die Endrunde des Arthur C. Clarke Awards. Da Harry Augusts Geschichte trotz einiger Ähnlichkeiten weit mehr ist als eine aktualisierte Hommage an Kim Grimwoods mit dem World Fantasy Award ausgezeichneten Genre-Klassiker „Replay – Das zweite Spiel“ (im Shop) aus dem Jahre 1988, geht das vollkommen in Ordnung.

Natürlich ist „The First Fifteen Lives of Harry August“, das China-Miéville-Übersetzerin Eva Bauche-Eppers ins Deutsche übertragen hat, kein technischer Zeitreise-Roman und ferner absolut keine Hard-SF, obwohl Technik im späteren Verlauf der Handlung eine gewisse Rolle spielt. Viel wichtiger sind die psychologischen und emotionalen Auswirkungen der Lebens-Stafetten sowie die Möglichkeiten und Grenzen, mit denen sich Harry und andere von seinem nichtlinearen Schlag konfrontiert sehen, wobei zumindest alle Mitglieder des Cronus Club schwören, sich nicht auf eine Weise in den Lauf der Welt einzumischen, der diesen positiv oder negativ spürbar verändert – auf Pferderennen wetten sie trotzdem, und mal ehrlich, was wäre eine heute veröffentlichte Zeitreise-Geschichte ohne Sportwetten? Neben den faszinierenden und spannenden Berichten und Beichten von Harry August geht es im Roman letztlich also um das ewige moralische und somit menschliche Dilemma, das durch den Kreislauf der Wiedergeburt keineswegs kleiner wird.

Man muss sich an den richtigen Stellen auf Claire Norths Roman einlassen – dann kann man ihn im schönen Hardcover, im E-Book oder als Hörbuch vollauf als Science-Fiction-Lektüre der etwas anderen Art genießen. Dass „Die vielen Leben des Harry August“ dabei nicht nur Genre-Fans gefallen dürfte, macht das Buch zudem als Empfehlung für unvoreingenommene Leser oder als Geschenk-Option für Weihnachten interessant.

Claire North: Die vielen Leben des Harry August • Lübbe, Köln 2015 • 492 Seiten • 19,99 Euro

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