Fabelhafte Öko-Utopie
„Unfollow“: Ein beeindruckender Comic von Lukas Jüliger
Das Bewusstsein der Erde, das bereits die Entstehung des Lebens und die Entwicklung des Menschen beobachtete, scheint sich in unserer Gegenwart in einem Jungen zu manifestieren. Dessen Verbindung zu Mutter Natur ist morbide, jedoch stark, und schließlich wird er nach Aufenthalten in der Psychiatrie und in Heimen als Social-Media-Ikone Earthboi die letzte Hoffnung seiner Generation – und eines Planeten, dessen Klimawandel und Artensterben viel mit uns Menschen zu tun haben. Earthboi lässt sich mit Smartphone und Solarpanels in einem Naturschutzgebiet nieder und flasht immer mehr Follower aufgrund seiner Dokumentation der voranschreitenden Entgleisung des Ökosystems sowie seinen Gedanken zu einem nachhaltigen Leben. Er wird auf allen Kanälen zur Internetpersönlichkeit, zum Öko-Influencer und mittels einer App zur Leitfigur derer, die noch Hoffnung haben, dass der Planet gerettet werden kann, sofern die Menschheit sich nur besinnt. Und so scharen sich immer mehr Follower um Earthboi und seine virale Vision …
Unfollow wirkt wie die Summe dessen, worauf sich der 1988 geborene Lukas Jüliger in den letzten Jahren künstlerisch und inhaltlich konsequent zubewegt hat. Die Coming-of-Age-Graphic Novel Vakuum und die moderne Poe-Neuinterpretation Berenice scheinen jedenfalls auf vielen Ebenen zu Unfollow hingeführt zu haben. Jüliger, der Bleistift, Tusche und Computerkolorierung für sanfte Bilder nutzt, wurde unübersehbar vom Manga inspiriert. Zudem verzichtet er auf Sprechblasen in seinen Bildern, stehen seine Texte über bzw. unter den ruhigen Panels. Die Wirkung der ausgewählten Worte, die den schönen Bildern nie unterlegen sind, ist trotzdem groß. Meistens ergeben sie sogar eine ebenso perfekte Symbiose wie die Verbindung des Übersinnlichen und Fabelhaften mit dem technisierten Zeitgeist von Heute.
Überhaupt ist man als Leser im Jahr 2020 äußerst empfänglich für Unfollow, selbst wenn andere große Probleme wie Corona oder die rassistischen Ereignisse in den USA dem Klimawandel in den Medien und unser aller Köpfen vorübergehend das Rampenlicht gestohlen haben mögen. Dieses Problem haben und hatten einige Science-Fiction-Geschichten plötzlich. Doch der Klimawandel ist ja leider nicht aus der Welt – und bei der Lektüre eines Werks wie Unfollow schnell wieder präsent. Das hypermoderne Social-Media-Hippie-Märchen von Earthboi endet übrigens finsterer als erwartet, und leider auch ohne das echte Rezept, auf das man unterwegs fast zu hoffen bereit war. Aber so ist das eben mit Utopien: Sie sind schwer ewig am Leben zu halten und müssen sich irgendwann dem Prüfstein der Realität stellen. Und da 2020 mit Pandemie und Polizeigewalt immer mehr zur Dystopie verkam, mag sein zynisches Ende dem Comic insgesamt vielleicht nicht gerecht werden, aber sicher doch der Wirklichkeit – und die kann schließlich selbst die größte Vision korrumpieren und pervertieren.
Ein grandioser Comic, dem man viele Follower wünscht. Like.
Bilder © Lukas Jüliger
Lukas Jüliger: Unfollow • Reprodukt, Berlin 2020 • 168 Seiten • Klappenbroschur: 18 Euro
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